Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Gestern morgen, vor Goethe's Abreise nach Weimar,
war ich so glücklich wieder ein Stündchen bey ihm zu
seyn. Und da führte er ein höchst bedeutendes Gespräch,
was für mich ganz unschätzbar ist und mir auf mein
ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deutsch¬
land müßten es wissen, es könnte ihnen helfen.

Er leitete das Gespräch ein indem er mich fragte, ob
ich diesen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich ant¬
wortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir
aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. "Nehmen
Sie sich in Acht, sagte er darauf, vor einer großen
Arbeit. Das ist's eben, woran unsere Besten leiden,
gerade diejenigen, in denen das meiste Talent und das
tüchtigste Streben vorhanden. Ich habe auch daran ge¬
litten und weiß was es mir geschadet hat. -- Was ist
da nicht alles in den Brunnen gefallen! -- Wenn ich
alles gemacht hätte, was ich recht gut hätte machen kön¬
nen, es würden keine hundert Bände reichen."

"Die Gegenwart will ihre Rechte; was sich täglich
im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdrängt,
das will und soll ausgesprochen seyn. Hat man aber
ein größeres Werk im Kopfe, so kann nichts daneben
aufkommen, so werden alle Gedanken zurückgewiesen und
man ist für die Behaglichkeit des Lebens selbst so lange
verloren. Welche Anstrengung und Verwendung von
Geisteskraft gehört nicht dazu, um nur ein großes Gan¬

4*

Geſtern morgen, vor Goethe's Abreiſe nach Weimar,
war ich ſo gluͤcklich wieder ein Stuͤndchen bey ihm zu
ſeyn. Und da fuͤhrte er ein hoͤchſt bedeutendes Geſpraͤch,
was fuͤr mich ganz unſchaͤtzbar iſt und mir auf mein
ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deutſch¬
land muͤßten es wiſſen, es koͤnnte ihnen helfen.

Er leitete das Geſpraͤch ein indem er mich fragte, ob
ich dieſen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich ant¬
wortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir
aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. „Nehmen
Sie ſich in Acht, ſagte er darauf, vor einer großen
Arbeit. Das iſt's eben, woran unſere Beſten leiden,
gerade diejenigen, in denen das meiſte Talent und das
tuͤchtigſte Streben vorhanden. Ich habe auch daran ge¬
litten und weiß was es mir geſchadet hat. — Was iſt
da nicht alles in den Brunnen gefallen! — Wenn ich
alles gemacht haͤtte, was ich recht gut haͤtte machen koͤn¬
nen, es wuͤrden keine hundert Baͤnde reichen.“

„Die Gegenwart will ihre Rechte; was ſich taͤglich
im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdraͤngt,
das will und ſoll ausgeſprochen ſeyn. Hat man aber
ein groͤßeres Werk im Kopfe, ſo kann nichts daneben
aufkommen, ſo werden alle Gedanken zuruͤckgewieſen und
man iſt fuͤr die Behaglichkeit des Lebens ſelbſt ſo lange
verloren. Welche Anſtrengung und Verwendung von
Geiſteskraft gehoͤrt nicht dazu, um nur ein großes Gan¬

4*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0071" n="51"/>
        <div>
          <dateline rendition="#right">Jena, Donnerstag den 18. September 1823.</dateline><lb/>
          <p>Ge&#x017F;tern morgen, vor Goethe's Abrei&#x017F;e nach Weimar,<lb/>
war ich &#x017F;o glu&#x0364;cklich wieder ein Stu&#x0364;ndchen bey ihm zu<lb/>
&#x017F;eyn. Und da fu&#x0364;hrte er ein ho&#x0364;ch&#x017F;t bedeutendes Ge&#x017F;pra&#x0364;ch,<lb/>
was fu&#x0364;r mich ganz un&#x017F;cha&#x0364;tzbar i&#x017F;t und mir auf mein<lb/>
ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deut&#x017F;ch¬<lb/>
land mu&#x0364;ßten es wi&#x017F;&#x017F;en, es ko&#x0364;nnte ihnen helfen.</p><lb/>
          <p>Er leitete das Ge&#x017F;pra&#x0364;ch ein indem er mich fragte, ob<lb/>
ich die&#x017F;en Sommer keine Gedichte gemacht. Ich ant¬<lb/>
wortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir<lb/>
aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. &#x201E;Nehmen<lb/>
Sie &#x017F;ich in Acht, &#x017F;agte er darauf, vor einer großen<lb/>
Arbeit. Das i&#x017F;t's eben, woran un&#x017F;ere Be&#x017F;ten leiden,<lb/>
gerade diejenigen, in denen das mei&#x017F;te Talent und das<lb/>
tu&#x0364;chtig&#x017F;te Streben vorhanden. Ich habe auch daran ge¬<lb/>
litten und weiß was es mir ge&#x017F;chadet hat. &#x2014; Was i&#x017F;t<lb/>
da nicht alles in den Brunnen gefallen! &#x2014; Wenn ich<lb/>
alles gemacht ha&#x0364;tte, was ich recht gut ha&#x0364;tte machen ko&#x0364;<lb/>
nen, es wu&#x0364;rden keine hundert Ba&#x0364;nde reichen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die Gegenwart will ihre Rechte; was &#x017F;ich ta&#x0364;glich<lb/>
im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdra&#x0364;ngt,<lb/>
das will und &#x017F;oll ausge&#x017F;prochen &#x017F;eyn. Hat man aber<lb/>
ein gro&#x0364;ßeres Werk im Kopfe, &#x017F;o kann nichts daneben<lb/>
aufkommen, &#x017F;o werden alle Gedanken zuru&#x0364;ckgewie&#x017F;en und<lb/>
man i&#x017F;t fu&#x0364;r die Behaglichkeit des Lebens &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;o lange<lb/>
verloren. Welche An&#x017F;trengung und Verwendung von<lb/>
Gei&#x017F;teskraft geho&#x0364;rt nicht dazu, um nur ein großes Gan¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">4*<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0071] Jena, Donnerstag den 18. September 1823. Geſtern morgen, vor Goethe's Abreiſe nach Weimar, war ich ſo gluͤcklich wieder ein Stuͤndchen bey ihm zu ſeyn. Und da fuͤhrte er ein hoͤchſt bedeutendes Geſpraͤch, was fuͤr mich ganz unſchaͤtzbar iſt und mir auf mein ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deutſch¬ land muͤßten es wiſſen, es koͤnnte ihnen helfen. Er leitete das Geſpraͤch ein indem er mich fragte, ob ich dieſen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich ant¬ wortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. „Nehmen Sie ſich in Acht, ſagte er darauf, vor einer großen Arbeit. Das iſt's eben, woran unſere Beſten leiden, gerade diejenigen, in denen das meiſte Talent und das tuͤchtigſte Streben vorhanden. Ich habe auch daran ge¬ litten und weiß was es mir geſchadet hat. — Was iſt da nicht alles in den Brunnen gefallen! — Wenn ich alles gemacht haͤtte, was ich recht gut haͤtte machen koͤn¬ nen, es wuͤrden keine hundert Baͤnde reichen.“ „Die Gegenwart will ihre Rechte; was ſich taͤglich im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdraͤngt, das will und ſoll ausgeſprochen ſeyn. Hat man aber ein groͤßeres Werk im Kopfe, ſo kann nichts daneben aufkommen, ſo werden alle Gedanken zuruͤckgewieſen und man iſt fuͤr die Behaglichkeit des Lebens ſelbſt ſo lange verloren. Welche Anſtrengung und Verwendung von Geiſteskraft gehoͤrt nicht dazu, um nur ein großes Gan¬ 4*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/71
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/71>, abgerufen am 22.11.2024.