Gestern morgen, vor Goethe's Abreise nach Weimar, war ich so glücklich wieder ein Stündchen bey ihm zu seyn. Und da führte er ein höchst bedeutendes Gespräch, was für mich ganz unschätzbar ist und mir auf mein ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deutsch¬ land müßten es wissen, es könnte ihnen helfen.
Er leitete das Gespräch ein indem er mich fragte, ob ich diesen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich ant¬ wortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. "Nehmen Sie sich in Acht, sagte er darauf, vor einer großen Arbeit. Das ist's eben, woran unsere Besten leiden, gerade diejenigen, in denen das meiste Talent und das tüchtigste Streben vorhanden. Ich habe auch daran ge¬ litten und weiß was es mir geschadet hat. -- Was ist da nicht alles in den Brunnen gefallen! -- Wenn ich alles gemacht hätte, was ich recht gut hätte machen kön¬ nen, es würden keine hundert Bände reichen."
"Die Gegenwart will ihre Rechte; was sich täglich im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdrängt, das will und soll ausgesprochen seyn. Hat man aber ein größeres Werk im Kopfe, so kann nichts daneben aufkommen, so werden alle Gedanken zurückgewiesen und man ist für die Behaglichkeit des Lebens selbst so lange verloren. Welche Anstrengung und Verwendung von Geisteskraft gehört nicht dazu, um nur ein großes Gan¬
4*
Jena, Donnerstag den 18. September 1823.
Geſtern morgen, vor Goethe's Abreiſe nach Weimar, war ich ſo gluͤcklich wieder ein Stuͤndchen bey ihm zu ſeyn. Und da fuͤhrte er ein hoͤchſt bedeutendes Geſpraͤch, was fuͤr mich ganz unſchaͤtzbar iſt und mir auf mein ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deutſch¬ land muͤßten es wiſſen, es koͤnnte ihnen helfen.
Er leitete das Geſpraͤch ein indem er mich fragte, ob ich dieſen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich ant¬ wortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. „Nehmen Sie ſich in Acht, ſagte er darauf, vor einer großen Arbeit. Das iſt's eben, woran unſere Beſten leiden, gerade diejenigen, in denen das meiſte Talent und das tuͤchtigſte Streben vorhanden. Ich habe auch daran ge¬ litten und weiß was es mir geſchadet hat. — Was iſt da nicht alles in den Brunnen gefallen! — Wenn ich alles gemacht haͤtte, was ich recht gut haͤtte machen koͤn¬ nen, es wuͤrden keine hundert Baͤnde reichen.“
„Die Gegenwart will ihre Rechte; was ſich taͤglich im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdraͤngt, das will und ſoll ausgeſprochen ſeyn. Hat man aber ein groͤßeres Werk im Kopfe, ſo kann nichts daneben aufkommen, ſo werden alle Gedanken zuruͤckgewieſen und man iſt fuͤr die Behaglichkeit des Lebens ſelbſt ſo lange verloren. Welche Anſtrengung und Verwendung von Geiſteskraft gehoͤrt nicht dazu, um nur ein großes Gan¬
4*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0071"n="51"/><div><datelinerendition="#right">Jena, Donnerstag den 18. September 1823.</dateline><lb/><p>Geſtern morgen, vor Goethe's Abreiſe nach Weimar,<lb/>
war ich ſo gluͤcklich wieder ein Stuͤndchen bey ihm zu<lb/>ſeyn. Und da fuͤhrte er ein hoͤchſt bedeutendes Geſpraͤch,<lb/>
was fuͤr mich ganz unſchaͤtzbar iſt und mir auf mein<lb/>
ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deutſch¬<lb/>
land muͤßten es wiſſen, es koͤnnte ihnen helfen.</p><lb/><p>Er leitete das Geſpraͤch ein indem er mich fragte, ob<lb/>
ich dieſen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich ant¬<lb/>
wortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir<lb/>
aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. „Nehmen<lb/>
Sie ſich in Acht, ſagte er darauf, vor einer großen<lb/>
Arbeit. Das iſt's eben, woran unſere Beſten leiden,<lb/>
gerade diejenigen, in denen das meiſte Talent und das<lb/>
tuͤchtigſte Streben vorhanden. Ich habe auch daran ge¬<lb/>
litten und weiß was es mir geſchadet hat. — Was iſt<lb/>
da nicht alles in den Brunnen gefallen! — Wenn ich<lb/>
alles gemacht haͤtte, was ich recht gut haͤtte machen koͤn¬<lb/>
nen, es wuͤrden keine hundert Baͤnde reichen.“</p><lb/><p>„Die Gegenwart will ihre Rechte; was ſich taͤglich<lb/>
im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdraͤngt,<lb/>
das will und ſoll ausgeſprochen ſeyn. Hat man aber<lb/>
ein groͤßeres Werk im Kopfe, ſo kann nichts daneben<lb/>
aufkommen, ſo werden alle Gedanken zuruͤckgewieſen und<lb/>
man iſt fuͤr die Behaglichkeit des Lebens ſelbſt ſo lange<lb/>
verloren. Welche Anſtrengung und Verwendung von<lb/>
Geiſteskraft gehoͤrt nicht dazu, um nur ein großes Gan¬<lb/><fwplace="bottom"type="sig">4*<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[51/0071]
Jena, Donnerstag den 18. September 1823.
Geſtern morgen, vor Goethe's Abreiſe nach Weimar,
war ich ſo gluͤcklich wieder ein Stuͤndchen bey ihm zu
ſeyn. Und da fuͤhrte er ein hoͤchſt bedeutendes Geſpraͤch,
was fuͤr mich ganz unſchaͤtzbar iſt und mir auf mein
ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deutſch¬
land muͤßten es wiſſen, es koͤnnte ihnen helfen.
Er leitete das Geſpraͤch ein indem er mich fragte, ob
ich dieſen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich ant¬
wortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir
aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. „Nehmen
Sie ſich in Acht, ſagte er darauf, vor einer großen
Arbeit. Das iſt's eben, woran unſere Beſten leiden,
gerade diejenigen, in denen das meiſte Talent und das
tuͤchtigſte Streben vorhanden. Ich habe auch daran ge¬
litten und weiß was es mir geſchadet hat. — Was iſt
da nicht alles in den Brunnen gefallen! — Wenn ich
alles gemacht haͤtte, was ich recht gut haͤtte machen koͤn¬
nen, es wuͤrden keine hundert Baͤnde reichen.“
„Die Gegenwart will ihre Rechte; was ſich taͤglich
im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdraͤngt,
das will und ſoll ausgeſprochen ſeyn. Hat man aber
ein groͤßeres Werk im Kopfe, ſo kann nichts daneben
aufkommen, ſo werden alle Gedanken zuruͤckgewieſen und
man iſt fuͤr die Behaglichkeit des Lebens ſelbſt ſo lange
verloren. Welche Anſtrengung und Verwendung von
Geiſteskraft gehoͤrt nicht dazu, um nur ein großes Gan¬
4*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/71>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.