ist glücklicherweise ganz auf uns gekommen; dagegen von den Philokteten des Aeschylus und Euripides hat man Bruchstücke aufgefunden, aus denen hinreichend zu sehen ist, wie sie ihren Gegenstand behandelt haben. Wollte es meine Zeit mir erlauben, so würde ich diese Stücke restauriren, so wie ich es mit dem Phaethon des Euripides gethan, und es sollte mir keine unange¬ nehme und unnütze Arbeit seyn."
"Bey diesem Süjet war die Aufgabe ganz einfach: nämlich den Philoktet nebst dem Bogen von der Insel Lemnos zu holen. Aber die Art wie dieses geschieht, das war nun die Sache der Dichter und darin konnte jeder die Kraft seiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvorthun. Der Ulyß soll ihn holen, aber soll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und wodurch soll er unkenntlich seyn? Soll der Ulyß allein gehen, oder soll er Begleiter haben, und wer soll ihn begleiten? Beym Aeschylus ist der Gefährte unbekannt, beym Euripides ist es der Diomed, beym Sophocles der Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zustande soll man den Philoktet finden? Soll die Insel bewohnt seyn oder nicht, und wenn bewohnt, soll sich eine mitleidige Seele seiner angenommen haben oder nicht? Und so hundert andere Dinge, die alle in der Willkür der Dich¬ ter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine vor dem andern seine höhere Weisheit zeigen konnte. Hierin liegt's und so sollten es die jetzigen Dichter auch
iſt gluͤcklicherweiſe ganz auf uns gekommen; dagegen von den Philokteten des Aeſchylus und Euripides hat man Bruchſtuͤcke aufgefunden, aus denen hinreichend zu ſehen iſt, wie ſie ihren Gegenſtand behandelt haben. Wollte es meine Zeit mir erlauben, ſo wuͤrde ich dieſe Stuͤcke reſtauriren, ſo wie ich es mit dem Phaethon des Euripides gethan, und es ſollte mir keine unange¬ nehme und unnuͤtze Arbeit ſeyn.“
„Bey dieſem Suͤjet war die Aufgabe ganz einfach: naͤmlich den Philoktet nebſt dem Bogen von der Inſel Lemnos zu holen. Aber die Art wie dieſes geſchieht, das war nun die Sache der Dichter und darin konnte jeder die Kraft ſeiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvorthun. Der Ulyß ſoll ihn holen, aber ſoll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und wodurch ſoll er unkenntlich ſeyn? Soll der Ulyß allein gehen, oder ſoll er Begleiter haben, und wer ſoll ihn begleiten? Beym Aeſchylus iſt der Gefaͤhrte unbekannt, beym Euripides iſt es der Diomed, beym Sophocles der Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zuſtande ſoll man den Philoktet finden? Soll die Inſel bewohnt ſeyn oder nicht, und wenn bewohnt, ſoll ſich eine mitleidige Seele ſeiner angenommen haben oder nicht? Und ſo hundert andere Dinge, die alle in der Willkuͤr der Dich¬ ter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine vor dem andern ſeine hoͤhere Weisheit zeigen konnte. Hierin liegt’s und ſo ſollten es die jetzigen Dichter auch
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iſt gluͤcklicherweiſe ganz auf uns gekommen; dagegen
von den Philokteten des Aeſchylus und Euripides hat
man Bruchſtuͤcke aufgefunden, aus denen hinreichend zu
ſehen iſt, wie ſie ihren Gegenſtand behandelt haben.
Wollte es meine Zeit mir erlauben, ſo wuͤrde ich dieſe
Stuͤcke reſtauriren, ſo wie ich es mit dem Phaethon
des Euripides gethan, und es ſollte mir keine unange¬
nehme und unnuͤtze Arbeit ſeyn.“
„Bey dieſem Suͤjet war die Aufgabe ganz einfach:
naͤmlich den Philoktet nebſt dem Bogen von der Inſel
Lemnos zu holen. Aber die Art wie dieſes geſchieht,
das war nun die Sache der Dichter und darin konnte
jeder die Kraft ſeiner Erfindung zeigen und einer es
dem andern zuvorthun. Der Ulyß ſoll ihn holen, aber
ſoll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und
wodurch ſoll er unkenntlich ſeyn? Soll der Ulyß allein
gehen, oder ſoll er Begleiter haben, und wer ſoll ihn
begleiten? Beym Aeſchylus iſt der Gefaͤhrte unbekannt,
beym Euripides iſt es der Diomed, beym Sophocles der
Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zuſtande ſoll man
den Philoktet finden? Soll die Inſel bewohnt ſeyn oder
nicht, und wenn bewohnt, ſoll ſich eine mitleidige
Seele ſeiner angenommen haben oder nicht? Und ſo
hundert andere Dinge, die alle in der Willkuͤr der Dich¬
ter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine
vor dem andern ſeine hoͤhere Weisheit zeigen konnte.
Hierin liegt’s und ſo ſollten es die jetzigen Dichter auch
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/348>, abgerufen am 23.11.2024.
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