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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es
gehen will, uns daraus aneignen."

Ich freute mich, Goethe in einer Folge über einen
so wichtigen Gegenstand reden zu hören. Das Geklin¬
gel vorbeyfahrender Schlitten lockte uns zum Fenster,
denn wir erwarteten, daß der große Zug, der diesen
Morgen nach Belvedere vorbey ging, wieder zurückkom¬
men würde. Goethe setzte indeß seine lehrreichen Äuße¬
rungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede
und er erzählte mir, daß Graf Reinhard Herrn Man¬
zoni vor nicht langer Zeit in Paris gesehen, wo er als
ein junger Autor von Namen in der Gesellschaft wohl
aufgenommen gewesen sey und daß er jetzt wieder in
der Nähe von Mailand auf seinem Landgute mit einer
jungen Familie und seiner Mutter glücklich lebe.

"Manzoni, fuhr Goethe fort, fehlt weiter nichts,
als daß er selbst nicht weiß, welch ein guter Poet er
ist, und welche Rechte ihm als solchem zustehen. Er
hat gar zu viel Respect vor der Geschichte und fügt
aus diesem Grunde seinen Stücken immer gern einige
Auseinandersetzungen hinzu, in denen er nachweiset, wie
treu er den Einzelnheiten der Geschichte geblieben. Nun
mögen seine Facta historisch seyn, aber seine Charactere
sind es doch nicht, so wenig es mein Thoas und meine
Iphigenia sind. Kein Dichter hat je die historischen
Charactere gekannt, die er darstellte, hätte er sie aber
gekannt, so hätte er sie schwerlich so gebrauchen können.

wir nur hiſtoriſch betrachten und das Gute, ſo weit es
gehen will, uns daraus aneignen.“

Ich freute mich, Goethe in einer Folge uͤber einen
ſo wichtigen Gegenſtand reden zu hoͤren. Das Geklin¬
gel vorbeyfahrender Schlitten lockte uns zum Fenſter,
denn wir erwarteten, daß der große Zug, der dieſen
Morgen nach Belvedere vorbey ging, wieder zuruͤckkom¬
men wuͤrde. Goethe ſetzte indeß ſeine lehrreichen Äuße¬
rungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede
und er erzaͤhlte mir, daß Graf Reinhard Herrn Man¬
zoni vor nicht langer Zeit in Paris geſehen, wo er als
ein junger Autor von Namen in der Geſellſchaft wohl
aufgenommen geweſen ſey und daß er jetzt wieder in
der Naͤhe von Mailand auf ſeinem Landgute mit einer
jungen Familie und ſeiner Mutter gluͤcklich lebe.

„Manzoni, fuhr Goethe fort, fehlt weiter nichts,
als daß er ſelbſt nicht weiß, welch ein guter Poet er
iſt, und welche Rechte ihm als ſolchem zuſtehen. Er
hat gar zu viel Reſpect vor der Geſchichte und fuͤgt
aus dieſem Grunde ſeinen Stuͤcken immer gern einige
Auseinanderſetzungen hinzu, in denen er nachweiſet, wie
treu er den Einzelnheiten der Geſchichte geblieben. Nun
moͤgen ſeine Facta hiſtoriſch ſeyn, aber ſeine Charactere
ſind es doch nicht, ſo wenig es mein Thoas und meine
Iphigenia ſind. Kein Dichter hat je die hiſtoriſchen
Charactere gekannt, die er darſtellte, haͤtte er ſie aber
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[326/0346] wir nur hiſtoriſch betrachten und das Gute, ſo weit es gehen will, uns daraus aneignen.“ Ich freute mich, Goethe in einer Folge uͤber einen ſo wichtigen Gegenſtand reden zu hoͤren. Das Geklin¬ gel vorbeyfahrender Schlitten lockte uns zum Fenſter, denn wir erwarteten, daß der große Zug, der dieſen Morgen nach Belvedere vorbey ging, wieder zuruͤckkom¬ men wuͤrde. Goethe ſetzte indeß ſeine lehrreichen Äuße¬ rungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede und er erzaͤhlte mir, daß Graf Reinhard Herrn Man¬ zoni vor nicht langer Zeit in Paris geſehen, wo er als ein junger Autor von Namen in der Geſellſchaft wohl aufgenommen geweſen ſey und daß er jetzt wieder in der Naͤhe von Mailand auf ſeinem Landgute mit einer jungen Familie und ſeiner Mutter gluͤcklich lebe. „Manzoni, fuhr Goethe fort, fehlt weiter nichts, als daß er ſelbſt nicht weiß, welch ein guter Poet er iſt, und welche Rechte ihm als ſolchem zuſtehen. Er hat gar zu viel Reſpect vor der Geſchichte und fuͤgt aus dieſem Grunde ſeinen Stuͤcken immer gern einige Auseinanderſetzungen hinzu, in denen er nachweiſet, wie treu er den Einzelnheiten der Geſchichte geblieben. Nun moͤgen ſeine Facta hiſtoriſch ſeyn, aber ſeine Charactere ſind es doch nicht, ſo wenig es mein Thoas und meine Iphigenia ſind. Kein Dichter hat je die hiſtoriſchen Charactere gekannt, die er darſtellte, haͤtte er ſie aber gekannt, ſo haͤtte er ſie ſchwerlich ſo gebrauchen koͤnnen.

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/346>, abgerufen am 23.11.2024.