Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Begleitet von dem Manuscript der Novelle und
einer Ausgabe des Beranger ging ich gegen sieben Uhr
zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bey ihm in Ge¬
sprächen über die neue französische Literatur. Ich hörte
mit Interesse zu und es kam zur Sprache, daß die
neuesten Talente hinsichtlich guter Verse sehr viel von
Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen
Genfer, das Deutsche nicht ganz geläufig war, Goethe
aber im Französischen sich ziemlich bequem ausdrückt,
so ging die Unterhaltung französisch und nur an solchen
Stellen deutsch, wo ich mich in das Gespräch mischte.
Ich zog den Beranger aus der Tasche und überreichte
ihn Goethe, der diese trefflichen Lieder von neuem zu
lesen wünschte. Das den Gedichten vorstehende Por¬
trait fand Herr Soret nicht ähnlich. Goethe freute sich
die zierliche Ausgabe in Händen zu halten. "Diese
Lieder, sagte er, sind vollkommen und als das Beste in
ihrer Art anzusehen, besonders wenn man sich das Ge¬
jodel des Refrains hinzudenkt, denn sonst sind sie als
Lieder fast zu ernst, zu geistreich, zu epigrammatisch. Ich
werde durch Beranger immer an den Horaz und Hafis
erinnert, die beyde auch über ihrer Zeit standen und die
Sittenverderbniß spottend und spielend zur Sprache brach¬
ten. Beranger hat zu seiner Umgebung dieselbige Stellung¬

Begleitet von dem Manuſcript der Novelle und
einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen ſieben Uhr
zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bey ihm in Ge¬
ſpraͤchen uͤber die neue franzoͤſiſche Literatur. Ich hoͤrte
mit Intereſſe zu und es kam zur Sprache, daß die
neueſten Talente hinſichtlich guter Verſe ſehr viel von
Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen
Genfer, das Deutſche nicht ganz gelaͤufig war, Goethe
aber im Franzoͤſiſchen ſich ziemlich bequem ausdruͤckt,
ſo ging die Unterhaltung franzoͤſiſch und nur an ſolchen
Stellen deutſch, wo ich mich in das Geſpraͤch miſchte.
Ich zog den Béranger aus der Taſche und uͤberreichte
ihn Goethe, der dieſe trefflichen Lieder von neuem zu
leſen wuͤnſchte. Das den Gedichten vorſtehende Por¬
trait fand Herr Soret nicht aͤhnlich. Goethe freute ſich
die zierliche Ausgabe in Haͤnden zu halten. „Dieſe
Lieder, ſagte er, ſind vollkommen und als das Beſte in
ihrer Art anzuſehen, beſonders wenn man ſich das Ge¬
jodel des Refrains hinzudenkt, denn ſonſt ſind ſie als
Lieder faſt zu ernſt, zu geiſtreich, zu epigrammatiſch. Ich
werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis
erinnert, die beyde auch uͤber ihrer Zeit ſtanden und die
Sittenverderbniß ſpottend und ſpielend zur Sprache brach¬
ten. Béranger hat zu ſeiner Umgebung dieſelbige Stellung¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0335" n="315"/>
        </div>
        <div n="2">
          <dateline rendition="#right">Donnerstag Abend den 29. Januar 1827.<lb/></dateline>
          <p>Begleitet von dem Manu&#x017F;cript der Novelle und<lb/>
einer Ausgabe des B<hi rendition="#aq">é</hi>ranger ging ich gegen &#x017F;ieben Uhr<lb/>
zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bey ihm in Ge¬<lb/>
&#x017F;pra&#x0364;chen u&#x0364;ber die neue franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che Literatur. Ich ho&#x0364;rte<lb/>
mit Intere&#x017F;&#x017F;e zu und es kam zur Sprache, daß die<lb/>
neue&#x017F;ten Talente hin&#x017F;ichtlich guter Ver&#x017F;e &#x017F;ehr viel von<lb/>
Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen<lb/>
Genfer, das Deut&#x017F;che nicht ganz gela&#x0364;ufig war, Goethe<lb/>
aber im Franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen &#x017F;ich ziemlich bequem ausdru&#x0364;ckt,<lb/>
&#x017F;o ging die Unterhaltung franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;ch und nur an &#x017F;olchen<lb/>
Stellen deut&#x017F;ch, wo ich mich in das Ge&#x017F;pra&#x0364;ch mi&#x017F;chte.<lb/>
Ich zog den B<hi rendition="#aq">é</hi>ranger aus der Ta&#x017F;che und u&#x0364;berreichte<lb/>
ihn Goethe, der die&#x017F;e trefflichen Lieder von neuem zu<lb/>
le&#x017F;en wu&#x0364;n&#x017F;chte. Das den Gedichten vor&#x017F;tehende Por¬<lb/>
trait fand Herr Soret nicht a&#x0364;hnlich. Goethe freute &#x017F;ich<lb/>
die zierliche Ausgabe in Ha&#x0364;nden zu halten. &#x201E;Die&#x017F;e<lb/>
Lieder, &#x017F;agte er, &#x017F;ind vollkommen und als das Be&#x017F;te in<lb/>
ihrer Art anzu&#x017F;ehen, be&#x017F;onders wenn man &#x017F;ich das Ge¬<lb/>
jodel des Refrains hinzudenkt, denn &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;ind &#x017F;ie als<lb/>
Lieder fa&#x017F;t zu ern&#x017F;t, zu gei&#x017F;treich, zu epigrammati&#x017F;ch. Ich<lb/>
werde durch B<hi rendition="#aq">é</hi>ranger immer an den Horaz und Hafis<lb/>
erinnert, die beyde auch u&#x0364;ber ihrer Zeit &#x017F;tanden und die<lb/>
Sittenverderbniß &#x017F;pottend und &#x017F;pielend zur Sprache brach¬<lb/>
ten. B<hi rendition="#aq">é</hi>ranger hat zu &#x017F;einer Umgebung die&#x017F;elbige Stellung¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[315/0335] Donnerstag Abend den 29. Januar 1827. Begleitet von dem Manuſcript der Novelle und einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen ſieben Uhr zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bey ihm in Ge¬ ſpraͤchen uͤber die neue franzoͤſiſche Literatur. Ich hoͤrte mit Intereſſe zu und es kam zur Sprache, daß die neueſten Talente hinſichtlich guter Verſe ſehr viel von Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen Genfer, das Deutſche nicht ganz gelaͤufig war, Goethe aber im Franzoͤſiſchen ſich ziemlich bequem ausdruͤckt, ſo ging die Unterhaltung franzoͤſiſch und nur an ſolchen Stellen deutſch, wo ich mich in das Geſpraͤch miſchte. Ich zog den Béranger aus der Taſche und uͤberreichte ihn Goethe, der dieſe trefflichen Lieder von neuem zu leſen wuͤnſchte. Das den Gedichten vorſtehende Por¬ trait fand Herr Soret nicht aͤhnlich. Goethe freute ſich die zierliche Ausgabe in Haͤnden zu halten. „Dieſe Lieder, ſagte er, ſind vollkommen und als das Beſte in ihrer Art anzuſehen, beſonders wenn man ſich das Ge¬ jodel des Refrains hinzudenkt, denn ſonſt ſind ſie als Lieder faſt zu ernſt, zu geiſtreich, zu epigrammatiſch. Ich werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis erinnert, die beyde auch uͤber ihrer Zeit ſtanden und die Sittenverderbniß ſpottend und ſpielend zur Sprache brach¬ ten. Béranger hat zu ſeiner Umgebung dieſelbige Stellung¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/335
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/335>, abgerufen am 21.11.2024.