der Wärtel die Nachricht bringt, daß der Löwe oben an der Ruine sich in die Sonne gelegt habe.
Während des Lesens hatte ich die außerordentliche Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenstände bis auf die kleinste Localität vor die Augen gebracht waren. Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine, alles trat entschieden vor die Anschauung, so daß man genöthiget war, sich das Dargestellte gerade so zu den[-] ken, wie der Dichter es gewollt hatte. Zugleich war alles mit einer solchen Sicherheit, Besonnenheit und Herrschaft geschrieben, daß man vom Künftigen nichts vorausahnen und keine Zeile weiter blicken konnte als man las.
Eure Excellenz, sagte ich, müssen nach einem sehr bestimmten Schema gearbeitet haben.
"Allerdings habe ich das, antwortete Goethe; ich wollte das Süjet schon vor dreyßig Jahren ausführen und seit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach Hermann und Dorothea, wollte ich den Gegenstand in epischer Form und Hexametern behandeln und hatte auch zu diesem Zweck ein ausführliches Schema ent¬ worfen. Als ich nun jetzt das Süjet wieder vornehme, um es zu schreiben, kann ich jenes alte Schema nicht finden und bin also genöthigt, ein neues zu machen und zwar ganz gemäß der veränderten Form, die ich
der Waͤrtel die Nachricht bringt, daß der Loͤwe oben an der Ruine ſich in die Sonne gelegt habe.
Waͤhrend des Leſens hatte ich die außerordentliche Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenſtaͤnde bis auf die kleinſte Localitaͤt vor die Augen gebracht waren. Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine, alles trat entſchieden vor die Anſchauung, ſo daß man genoͤthiget war, ſich das Dargeſtellte gerade ſo zu den[-] ken, wie der Dichter es gewollt hatte. Zugleich war alles mit einer ſolchen Sicherheit, Beſonnenheit und Herrſchaft geſchrieben, daß man vom Kuͤnftigen nichts vorausahnen und keine Zeile weiter blicken konnte als man las.
Eure Excellenz, ſagte ich, muͤſſen nach einem ſehr beſtimmten Schema gearbeitet haben.
„Allerdings habe ich das, antwortete Goethe; ich wollte das Suͤjet ſchon vor dreyßig Jahren ausfuͤhren und ſeit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach Hermann und Dorothea, wollte ich den Gegenſtand in epiſcher Form und Hexametern behandeln und hatte auch zu dieſem Zweck ein ausfuͤhrliches Schema ent¬ worfen. Als ich nun jetzt das Suͤjet wieder vornehme, um es zu ſchreiben, kann ich jenes alte Schema nicht finden und bin alſo genoͤthigt, ein neues zu machen und zwar ganz gemaͤß der veraͤnderten Form, die ich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0306"n="286"/>
der Waͤrtel die Nachricht bringt, daß der Loͤwe oben an<lb/>
der Ruine ſich in die Sonne gelegt habe.</p><lb/><p>Waͤhrend des Leſens hatte ich die außerordentliche<lb/>
Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenſtaͤnde bis<lb/>
auf die kleinſte Localitaͤt vor die Augen gebracht waren.<lb/>
Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten<lb/>
Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine,<lb/>
alles trat entſchieden vor die Anſchauung, ſo daß man<lb/>
genoͤthiget war, ſich das Dargeſtellte gerade ſo zu den<supplied>-</supplied><lb/>
ken, wie der Dichter es gewollt hatte. Zugleich war<lb/>
alles mit einer ſolchen Sicherheit, Beſonnenheit und<lb/>
Herrſchaft geſchrieben, daß man vom Kuͤnftigen nichts<lb/>
vorausahnen und keine Zeile weiter blicken konnte als<lb/>
man las.</p><lb/><p>Eure Excellenz, ſagte ich, muͤſſen nach einem ſehr<lb/>
beſtimmten Schema gearbeitet haben.</p><lb/><p>„Allerdings habe ich das, antwortete Goethe; ich<lb/>
wollte das Suͤjet ſchon vor dreyßig Jahren ausfuͤhren<lb/>
und ſeit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es<lb/>
mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach<lb/>
Hermann und Dorothea, wollte ich den Gegenſtand in<lb/>
epiſcher Form und Hexametern behandeln und hatte<lb/>
auch zu dieſem Zweck ein ausfuͤhrliches Schema ent¬<lb/>
worfen. Als ich nun jetzt das Suͤjet wieder vornehme,<lb/>
um es zu ſchreiben, kann ich jenes alte Schema nicht<lb/>
finden und bin alſo genoͤthigt, ein neues zu machen<lb/>
und zwar ganz gemaͤß der veraͤnderten Form, die ich<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[286/0306]
der Waͤrtel die Nachricht bringt, daß der Loͤwe oben an
der Ruine ſich in die Sonne gelegt habe.
Waͤhrend des Leſens hatte ich die außerordentliche
Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenſtaͤnde bis
auf die kleinſte Localitaͤt vor die Augen gebracht waren.
Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten
Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine,
alles trat entſchieden vor die Anſchauung, ſo daß man
genoͤthiget war, ſich das Dargeſtellte gerade ſo zu den-
ken, wie der Dichter es gewollt hatte. Zugleich war
alles mit einer ſolchen Sicherheit, Beſonnenheit und
Herrſchaft geſchrieben, daß man vom Kuͤnftigen nichts
vorausahnen und keine Zeile weiter blicken konnte als
man las.
Eure Excellenz, ſagte ich, muͤſſen nach einem ſehr
beſtimmten Schema gearbeitet haben.
„Allerdings habe ich das, antwortete Goethe; ich
wollte das Suͤjet ſchon vor dreyßig Jahren ausfuͤhren
und ſeit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es
mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach
Hermann und Dorothea, wollte ich den Gegenſtand in
epiſcher Form und Hexametern behandeln und hatte
auch zu dieſem Zweck ein ausfuͤhrliches Schema ent¬
worfen. Als ich nun jetzt das Suͤjet wieder vornehme,
um es zu ſchreiben, kann ich jenes alte Schema nicht
finden und bin alſo genoͤthigt, ein neues zu machen
und zwar ganz gemaͤß der veraͤnderten Form, die ich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/306>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.