"Sehen Sie nur diese Stelle, wie schön sie ist!" Er las die Stelle von der Wetterwolke, aus der den Hel¬ den der Blitz von unten hinauf trifft. "Das ist schön! Denn das Bild ist wahr, welches man in Gebirgen finden wird, wo man oft die Gewitter unter sich hat und wo die Blitze von unten nach oben schlagen."
Ich lobe an den Franzosen, sagte ich, daß ihre Poesie nie den festen Boden der Realität verläßt. Man kann die Gedichte in Prosa übersetzen und ihr Wesent¬ liches wird bleiben.
"Das kommt daher, sagte Goethe, die französischen Dichter haben Kenntnisse; dagegen denken die deutschen Narren, sie verlören ihr Talent, wenn sie sich um Kenntnisse bemühten, obgleich jedes Talent sich durch Kenntnisse nähren muß und nur dadurch erst zum Ge¬ brauch seiner Kräfte gelangt. Doch wir wollen sie gehen lassen, man hilft ihnen doch nicht, und das wahrhafte Talent findet schon seinen Weg. Die vielen jungen Dichter, die jetzt ihr Wesen treiben, sind gar keine rechten Talente; sie beurkunden weiter nichts als ein Unvermögen, das durch die Höhe der deutschen Li¬ teratur zur Productivität angereizt worden."
"Daß die Franzosen, fuhr Goethe fort, aus der Pedanterie zu einer freyeren Art in der Poesie hervor¬ gehen, ist nicht zu verwundern. Diderot und ihm ähn¬ liche Geister haben schon vor der Revolution diese Bahn zu brechen gesucht. Die Revolution selbst sodann, so¬
„Sehen Sie nur dieſe Stelle, wie ſchoͤn ſie iſt!“ Er las die Stelle von der Wetterwolke, aus der den Hel¬ den der Blitz von unten hinauf trifft. „Das iſt ſchoͤn! Denn das Bild iſt wahr, welches man in Gebirgen finden wird, wo man oft die Gewitter unter ſich hat und wo die Blitze von unten nach oben ſchlagen.“
Ich lobe an den Franzoſen, ſagte ich, daß ihre Poeſie nie den feſten Boden der Realitaͤt verlaͤßt. Man kann die Gedichte in Proſa uͤberſetzen und ihr Weſent¬ liches wird bleiben.
„Das kommt daher, ſagte Goethe, die franzoͤſiſchen Dichter haben Kenntniſſe; dagegen denken die deutſchen Narren, ſie verloͤren ihr Talent, wenn ſie ſich um Kenntniſſe bemuͤhten, obgleich jedes Talent ſich durch Kenntniſſe naͤhren muß und nur dadurch erſt zum Ge¬ brauch ſeiner Kraͤfte gelangt. Doch wir wollen ſie gehen laſſen, man hilft ihnen doch nicht, und das wahrhafte Talent findet ſchon ſeinen Weg. Die vielen jungen Dichter, die jetzt ihr Weſen treiben, ſind gar keine rechten Talente; ſie beurkunden weiter nichts als ein Unvermoͤgen, das durch die Hoͤhe der deutſchen Li¬ teratur zur Productivitaͤt angereizt worden.“
„Daß die Franzoſen, fuhr Goethe fort, aus der Pedanterie zu einer freyeren Art in der Poeſie hervor¬ gehen, iſt nicht zu verwundern. Diderot und ihm aͤhn¬ liche Geiſter haben ſchon vor der Revolution dieſe Bahn zu brechen geſucht. Die Revolution ſelbſt ſodann, ſo¬
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„Sehen Sie nur dieſe Stelle, wie ſchoͤn ſie iſt!“ Er
las die Stelle von der Wetterwolke, aus der den Hel¬
den der Blitz von unten hinauf trifft. „Das iſt ſchoͤn!
Denn das Bild iſt wahr, welches man in Gebirgen
finden wird, wo man oft die Gewitter unter ſich hat
und wo die Blitze von unten nach oben ſchlagen.“
Ich lobe an den Franzoſen, ſagte ich, daß ihre
Poeſie nie den feſten Boden der Realitaͤt verlaͤßt. Man
kann die Gedichte in Proſa uͤberſetzen und ihr Weſent¬
liches wird bleiben.
„Das kommt daher, ſagte Goethe, die franzoͤſiſchen
Dichter haben Kenntniſſe; dagegen denken die deutſchen
Narren, ſie verloͤren ihr Talent, wenn ſie ſich um
Kenntniſſe bemuͤhten, obgleich jedes Talent ſich durch
Kenntniſſe naͤhren muß und nur dadurch erſt zum Ge¬
brauch ſeiner Kraͤfte gelangt. Doch wir wollen ſie
gehen laſſen, man hilft ihnen doch nicht, und das
wahrhafte Talent findet ſchon ſeinen Weg. Die vielen
jungen Dichter, die jetzt ihr Weſen treiben, ſind gar
keine rechten Talente; ſie beurkunden weiter nichts als
ein Unvermoͤgen, das durch die Hoͤhe der deutſchen Li¬
teratur zur Productivitaͤt angereizt worden.“
„Daß die Franzoſen, fuhr Goethe fort, aus der
Pedanterie zu einer freyeren Art in der Poeſie hervor¬
gehen, iſt nicht zu verwundern. Diderot und ihm aͤhn¬
liche Geiſter haben ſchon vor der Revolution dieſe Bahn
zu brechen geſucht. Die Revolution ſelbſt ſodann, ſo¬
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/299>, abgerufen am 24.11.2024.
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