Aus dem Gesetz des getrübten Lichtes, antwortete ich. Die brennende Kerze wirft auf das weiße Papier ein Licht, das schon einen leisen Hauch vom Gelblichen hat. Der einwirkende Tag aber hat so viele Gewalt, um vom Stäbchen aus nach dem Kerzenlichte zu einen schwachen Schatten zu werfen, der, so weit er reicht, das Licht trübt, und so entsteht, dem Gesetze gemäß, die gelbe Farbe. Schwäche ich die Trübe, indem ich den Schatten dem Lichte möglichst nahe bringe, so zeigt sich ein reines Hellgelb; verstärke ich aber die Trübe, indem ich den Schatten möglichst vom Licht entferne, so verdunkelt sich das Gelbe bis zum Röthlichen, ja Rothen.
Goethe lachte wieder, und zwar sehr geheimnißvoll. Nun? sagte ich, habe ich Recht? "Sie haben das Phä¬ nomen recht gut gesehen und recht hübsch ausgesprochen, antwortete Goethe, aber Sie haben es nicht erklärt. Ihre Erklärung ist gescheidt, ja sogar geistreich, aber sie ist nicht die richtige."
Nun so helfen Sie mir, sagte ich, und lösen Sie mir das Räthsel, denn ich bin nun im höchsten Grade ungeduldig. "Sie sollen es erfahren, sagte Goethe, aber nicht heute, und nicht auf diesem Wege. Ich will Ih¬ nen nächstens ein anderes Phänomen zeigen, durch wel¬ ches Ihnen das Gesetz augenscheinlich werden soll. Sie sind nahe heran, und weiter ist in dieser Richtung nicht zu gelangen. Haben Sie aber das neue Gesetz begriffen, so sind Sie in eine ganz andere Region ein¬
Aus dem Geſetz des getruͤbten Lichtes, antwortete ich. Die brennende Kerze wirft auf das weiße Papier ein Licht, das ſchon einen leiſen Hauch vom Gelblichen hat. Der einwirkende Tag aber hat ſo viele Gewalt, um vom Staͤbchen aus nach dem Kerzenlichte zu einen ſchwachen Schatten zu werfen, der, ſo weit er reicht, das Licht truͤbt, und ſo entſteht, dem Geſetze gemaͤß, die gelbe Farbe. Schwaͤche ich die Truͤbe, indem ich den Schatten dem Lichte moͤglichſt nahe bringe, ſo zeigt ſich ein reines Hellgelb; verſtaͤrke ich aber die Truͤbe, indem ich den Schatten moͤglichſt vom Licht entferne, ſo verdunkelt ſich das Gelbe bis zum Roͤthlichen, ja Rothen.
Goethe lachte wieder, und zwar ſehr geheimnißvoll. Nun? ſagte ich, habe ich Recht? „Sie haben das Phaͤ¬ nomen recht gut geſehen und recht huͤbſch ausgeſprochen, antwortete Goethe, aber Sie haben es nicht erklaͤrt. Ihre Erklaͤrung iſt geſcheidt, ja ſogar geiſtreich, aber ſie iſt nicht die richtige.“
Nun ſo helfen Sie mir, ſagte ich, und loͤſen Sie mir das Raͤthſel, denn ich bin nun im hoͤchſten Grade ungeduldig. „Sie ſollen es erfahren, ſagte Goethe, aber nicht heute, und nicht auf dieſem Wege. Ich will Ih¬ nen naͤchſtens ein anderes Phaͤnomen zeigen, durch wel¬ ches Ihnen das Geſetz augenſcheinlich werden ſoll. Sie ſind nahe heran, und weiter iſt in dieſer Richtung nicht zu gelangen. Haben Sie aber das neue Geſetz begriffen, ſo ſind Sie in eine ganz andere Region ein¬
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Aus dem Geſetz des getruͤbten Lichtes, antwortete
ich. Die brennende Kerze wirft auf das weiße Papier
ein Licht, das ſchon einen leiſen Hauch vom Gelblichen
hat. Der einwirkende Tag aber hat ſo viele Gewalt,
um vom Staͤbchen aus nach dem Kerzenlichte zu einen
ſchwachen Schatten zu werfen, der, ſo weit er reicht,
das Licht truͤbt, und ſo entſteht, dem Geſetze gemaͤß,
die gelbe Farbe. Schwaͤche ich die Truͤbe, indem ich
den Schatten dem Lichte moͤglichſt nahe bringe, ſo zeigt
ſich ein reines Hellgelb; verſtaͤrke ich aber die Truͤbe,
indem ich den Schatten moͤglichſt vom Licht entferne, ſo
verdunkelt ſich das Gelbe bis zum Roͤthlichen, ja Rothen.
Goethe lachte wieder, und zwar ſehr geheimnißvoll.
Nun? ſagte ich, habe ich Recht? „Sie haben das Phaͤ¬
nomen recht gut geſehen und recht huͤbſch ausgeſprochen,
antwortete Goethe, aber Sie haben es nicht erklaͤrt.
Ihre Erklaͤrung iſt geſcheidt, ja ſogar geiſtreich, aber
ſie iſt nicht die richtige.“
Nun ſo helfen Sie mir, ſagte ich, und loͤſen Sie
mir das Raͤthſel, denn ich bin nun im hoͤchſten Grade
ungeduldig. „Sie ſollen es erfahren, ſagte Goethe, aber
nicht heute, und nicht auf dieſem Wege. Ich will Ih¬
nen naͤchſtens ein anderes Phaͤnomen zeigen, durch wel¬
ches Ihnen das Geſetz augenſcheinlich werden ſoll. Sie
ſind nahe heran, und weiter iſt in dieſer Richtung
nicht zu gelangen. Haben Sie aber das neue Geſetz
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/292>, abgerufen am 24.11.2024.
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