Es ist wunderlich, sagte ich, daß die Shakspearischen Stücke keine eigentlichen Theater-Stücke sind, da Shak¬ speare sie doch alle für sein Theater geschrieben hat.
"Shakspeare, erwiederte Goethe, schrieb diese Stücke aus seiner Natur heraus, und dann machte seine Zeit und die Einrichtung der damaligen Bühne an ihn keine Anforderungen; man ließ sich gefallen, wie Shakspeare es brachte. Hätte aber Shakspeare für den Hof zu Madrid, oder für das Theater Ludwigs des vierzehnten geschrieben, er hätte sich auch wahrscheinlich einer stren¬ geren Theater-Form gefügt. Doch dieß ist keineswegs zu beklagen; denn was Shakspeare als Theater-Dichter für uns verloren hat, das hat er als Dichter im All¬ gemeinen gewonnen. Shakspeare ist ein großer Psycho¬ loge und man lernt aus seinen Stücken wie den Men¬ schen zu Muthe ist."
Wir sprachen über die Schwierigkeit einer guten Theater-Leitung.
"Das Schwere dabey ist, sagte Goethe, daß man das Zufällige zu übertragen wisse und sich dadurch von seinen höheren Maximen nicht ableiten lasse. Diese höheren Maximen sind: ein gutes Repertoir trefflicher Tragödien, Opern und Lustspiele, worauf man halten und die man als das Feststehende ansehen muß. Zu dem Zufälligen aber rechne ich: ein neues Stück, das man sehen will, eine Gastrolle, und dergleichen mehr. Von diesen Dingen muß man sich nicht irre leiten
Es iſt wunderlich, ſagte ich, daß die Shakſpeariſchen Stuͤcke keine eigentlichen Theater-Stuͤcke ſind, da Shak¬ ſpeare ſie doch alle fuͤr ſein Theater geſchrieben hat.
„Shakſpeare, erwiederte Goethe, ſchrieb dieſe Stuͤcke aus ſeiner Natur heraus, und dann machte ſeine Zeit und die Einrichtung der damaligen Buͤhne an ihn keine Anforderungen; man ließ ſich gefallen, wie Shakſpeare es brachte. Haͤtte aber Shakſpeare fuͤr den Hof zu Madrid, oder fuͤr das Theater Ludwigs des vierzehnten geſchrieben, er haͤtte ſich auch wahrſcheinlich einer ſtren¬ geren Theater-Form gefuͤgt. Doch dieß iſt keineswegs zu beklagen; denn was Shakſpeare als Theater-Dichter fuͤr uns verloren hat, das hat er als Dichter im All¬ gemeinen gewonnen. Shakſpeare iſt ein großer Pſycho¬ loge und man lernt aus ſeinen Stuͤcken wie den Men¬ ſchen zu Muthe iſt.“
Wir ſprachen uͤber die Schwierigkeit einer guten Theater-Leitung.
„Das Schwere dabey iſt, ſagte Goethe, daß man das Zufaͤllige zu uͤbertragen wiſſe und ſich dadurch von ſeinen hoͤheren Maximen nicht ableiten laſſe. Dieſe hoͤheren Maximen ſind: ein gutes Repertoir trefflicher Tragoͤdien, Opern und Luſtſpiele, worauf man halten und die man als das Feſtſtehende anſehen muß. Zu dem Zufaͤlligen aber rechne ich: ein neues Stuͤck, das man ſehen will, eine Gaſtrolle, und dergleichen mehr. Von dieſen Dingen muß man ſich nicht irre leiten
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Es iſt wunderlich, ſagte ich, daß die Shakſpeariſchen
Stuͤcke keine eigentlichen Theater-Stuͤcke ſind, da Shak¬
ſpeare ſie doch alle fuͤr ſein Theater geſchrieben hat.
„Shakſpeare, erwiederte Goethe, ſchrieb dieſe Stuͤcke
aus ſeiner Natur heraus, und dann machte ſeine Zeit
und die Einrichtung der damaligen Buͤhne an ihn keine
Anforderungen; man ließ ſich gefallen, wie Shakſpeare
es brachte. Haͤtte aber Shakſpeare fuͤr den Hof zu
Madrid, oder fuͤr das Theater Ludwigs des vierzehnten
geſchrieben, er haͤtte ſich auch wahrſcheinlich einer ſtren¬
geren Theater-Form gefuͤgt. Doch dieß iſt keineswegs
zu beklagen; denn was Shakſpeare als Theater-Dichter
fuͤr uns verloren hat, das hat er als Dichter im All¬
gemeinen gewonnen. Shakſpeare iſt ein großer Pſycho¬
loge und man lernt aus ſeinen Stuͤcken wie den Men¬
ſchen zu Muthe iſt.“
Wir ſprachen uͤber die Schwierigkeit einer guten
Theater-Leitung.
„Das Schwere dabey iſt, ſagte Goethe, daß man
das Zufaͤllige zu uͤbertragen wiſſe und ſich dadurch von
ſeinen hoͤheren Maximen nicht ableiten laſſe. Dieſe
hoͤheren Maximen ſind: ein gutes Repertoir trefflicher
Tragoͤdien, Opern und Luſtſpiele, worauf man halten
und die man als das Feſtſtehende anſehen muß. Zu
dem Zufaͤlligen aber rechne ich: ein neues Stuͤck, das
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/272>, abgerufen am 24.11.2024.
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