ganz anderer Natur; es war stärker, freyer und leichter und hatte eine größere Energie, einen besseren Zug. Außerordentliche Glut erinnerte an eine kräftig brausende Jugend. Beym Mangel an Stoff drehte es sich in sich selbst herum und war länger geworden als billig.
Ich legte Goethen das ganz vergilbte, kaum noch zusammenhängende Zeitungsblatt vor, und da er es mit Augen sah, erinnerte er sich des Gedichts wieder. "Es ist möglich, sagte er, daß das Fräulein von Klettenberg mich dazu veranlaßt hat; es steht in der Überschrift: auf Verlangen entworfen, und ich wüßte nicht, wer von meinen Freunden einen solchen Gegenstand anders hätte verlangen können. Es fehlte mir damals an Stoff und ich war glücklich, wenn ich nur etwas hatte, das ich besingen konnte. Noch dieser Tage fiel mir ein Gedicht aus jener Zeit in die Hände, das ich in englischer Sprache geschrieben und worin ich mich über den Mangel an poetischen Gegenständen beklage. Wir Deutschen sind auch wirk¬ lich schlimm daran: unsere Ur-Geschichte liegt zu sehr im Dunkel und die spätere hat aus Mangel eines ein¬ zigen Regentenhauses kein allgemeines nationales In¬ teresse. Klopstock versuchte sich am Hermann, allein der Gegenstand liegt zu entfernt, niemand hat dazu ein Verhältniß, niemand weiß, was er damit machen soll und seine Darstellung ist daher ohne Wirkung und Po¬ pularität geblieben. Ich that einen glücklichen Griff mit meinem Götz von Berlichingen; das war doch Bein
ganz anderer Natur; es war ſtaͤrker, freyer und leichter und hatte eine groͤßere Energie, einen beſſeren Zug. Außerordentliche Glut erinnerte an eine kraͤftig brauſende Jugend. Beym Mangel an Stoff drehte es ſich in ſich ſelbſt herum und war laͤnger geworden als billig.
Ich legte Goethen das ganz vergilbte, kaum noch zuſammenhaͤngende Zeitungsblatt vor, und da er es mit Augen ſah, erinnerte er ſich des Gedichts wieder. „Es iſt moͤglich, ſagte er, daß das Fraͤulein von Klettenberg mich dazu veranlaßt hat; es ſteht in der Überſchrift: auf Verlangen entworfen, und ich wuͤßte nicht, wer von meinen Freunden einen ſolchen Gegenſtand anders haͤtte verlangen koͤnnen. Es fehlte mir damals an Stoff und ich war gluͤcklich, wenn ich nur etwas hatte, das ich beſingen konnte. Noch dieſer Tage fiel mir ein Gedicht aus jener Zeit in die Haͤnde, das ich in engliſcher Sprache geſchrieben und worin ich mich uͤber den Mangel an poetiſchen Gegenſtaͤnden beklage. Wir Deutſchen ſind auch wirk¬ lich ſchlimm daran: unſere Ur-Geſchichte liegt zu ſehr im Dunkel und die ſpaͤtere hat aus Mangel eines ein¬ zigen Regentenhauſes kein allgemeines nationales In¬ tereſſe. Klopſtock verſuchte ſich am Hermann, allein der Gegenſtand liegt zu entfernt, niemand hat dazu ein Verhaͤltniß, niemand weiß, was er damit machen ſoll und ſeine Darſtellung iſt daher ohne Wirkung und Po¬ pularitaͤt geblieben. Ich that einen gluͤcklichen Griff mit meinem Goͤtz von Berlichingen; das war doch Bein
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ganz anderer Natur; es war ſtaͤrker, freyer und leichter
und hatte eine groͤßere Energie, einen beſſeren Zug.
Außerordentliche Glut erinnerte an eine kraͤftig brauſende
Jugend. Beym Mangel an Stoff drehte es ſich in
ſich ſelbſt herum und war laͤnger geworden als billig.
Ich legte Goethen das ganz vergilbte, kaum noch
zuſammenhaͤngende Zeitungsblatt vor, und da er es mit
Augen ſah, erinnerte er ſich des Gedichts wieder. „Es
iſt moͤglich, ſagte er, daß das Fraͤulein von Klettenberg
mich dazu veranlaßt hat; es ſteht in der Überſchrift:
auf Verlangen entworfen, und ich wuͤßte nicht, wer
von meinen Freunden einen ſolchen Gegenſtand anders
haͤtte verlangen koͤnnen. Es fehlte mir damals an Stoff und
ich war gluͤcklich, wenn ich nur etwas hatte, das ich beſingen
konnte. Noch dieſer Tage fiel mir ein Gedicht aus jener
Zeit in die Haͤnde, das ich in engliſcher Sprache geſchrieben
und worin ich mich uͤber den Mangel an poetiſchen
Gegenſtaͤnden beklage. Wir Deutſchen ſind auch wirk¬
lich ſchlimm daran: unſere Ur-Geſchichte liegt zu ſehr
im Dunkel und die ſpaͤtere hat aus Mangel eines ein¬
zigen Regentenhauſes kein allgemeines nationales In¬
tereſſe. Klopſtock verſuchte ſich am Hermann, allein
der Gegenſtand liegt zu entfernt, niemand hat dazu ein
Verhaͤltniß, niemand weiß, was er damit machen ſoll
und ſeine Darſtellung iſt daher ohne Wirkung und Po¬
pularitaͤt geblieben. Ich that einen gluͤcklichen Griff
mit meinem Goͤtz von Berlichingen; das war doch Bein
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/266>, abgerufen am 24.11.2024.
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