wie Wolff gelänge, das Leben großer Städte, wie Rom, Neapel, Wien, Hamburg und London mit aller treffen¬ den Wahrheit zu schildern und so lebendig, daß sie glaubten, es mit eigenen Augen zu sehen, er würde alles entzücken und hinreißen. Wenn er zum Objectiven durch¬ bricht, so ist er geborgen, es liegt in ihm, denn er ist nicht ohne Phantasie. Nur muß er sich schnell ent¬ schließen und es zu ergreifen wagen."
Ich fürchte, sagte ich, daß dieses schwerer ist als man glaubt, denn es erfordert eine Umwandlung der ganzen Denkweise. Gelingt es ihm, so wird auf jeden Fall ein augenblicklicher Stillstand in der Production eintreten und es wird eine lange Übung erfordern, bis ihm auch das Objective geläufig und zur zweyten Natur werde.
"Freylich, erwiederte Goethe, ist dieser Überschritt ungeheuer; aber er muß nur Muth haben und sich schnell entschließen. Es ist damit wie beym Baden die Scheu vor dem Wasser, man muß nur rasch hinein¬ springen und das Element wird unser seyn."
"Wenn einer singen lernen will, fuhr Goethe fort, sind ihm alle diejenigen Töne, die in seiner Kehle liegen, natürlich und leicht; die andern aber, die nicht in seiner Kehle liegen, sind ihm anfänglich äußerst schwer. Um aber ein Sänger zu werden, muß er sie überwinden, denn sie müssen ihm alle zu Gebote stehen. Ebenso ist es mit einem Dichter. Solange er bloß seine weni¬
wie Wolff gelaͤnge, das Leben großer Staͤdte, wie Rom, Neapel, Wien, Hamburg und London mit aller treffen¬ den Wahrheit zu ſchildern und ſo lebendig, daß ſie glaubten, es mit eigenen Augen zu ſehen, er wuͤrde alles entzuͤcken und hinreißen. Wenn er zum Objectiven durch¬ bricht, ſo iſt er geborgen, es liegt in ihm, denn er iſt nicht ohne Phantaſie. Nur muß er ſich ſchnell ent¬ ſchließen und es zu ergreifen wagen.“
Ich fuͤrchte, ſagte ich, daß dieſes ſchwerer iſt als man glaubt, denn es erfordert eine Umwandlung der ganzen Denkweiſe. Gelingt es ihm, ſo wird auf jeden Fall ein augenblicklicher Stillſtand in der Production eintreten und es wird eine lange Übung erfordern, bis ihm auch das Objective gelaͤufig und zur zweyten Natur werde.
„Freylich, erwiederte Goethe, iſt dieſer Überſchritt ungeheuer; aber er muß nur Muth haben und ſich ſchnell entſchließen. Es iſt damit wie beym Baden die Scheu vor dem Waſſer, man muß nur raſch hinein¬ ſpringen und das Element wird unſer ſeyn.“
„Wenn einer ſingen lernen will, fuhr Goethe fort, ſind ihm alle diejenigen Toͤne, die in ſeiner Kehle liegen, natuͤrlich und leicht; die andern aber, die nicht in ſeiner Kehle liegen, ſind ihm anfaͤnglich aͤußerſt ſchwer. Um aber ein Saͤnger zu werden, muß er ſie uͤberwinden, denn ſie muͤſſen ihm alle zu Gebote ſtehen. Ebenſo iſt es mit einem Dichter. Solange er bloß ſeine weni¬
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wie Wolff gelaͤnge, das Leben großer Staͤdte, wie Rom,
Neapel, Wien, Hamburg und London mit aller treffen¬
den Wahrheit zu ſchildern und ſo lebendig, daß ſie
glaubten, es mit eigenen Augen zu ſehen, er wuͤrde alles
entzuͤcken und hinreißen. Wenn er zum Objectiven durch¬
bricht, ſo iſt er geborgen, es liegt in ihm, denn er iſt
nicht ohne Phantaſie. Nur muß er ſich ſchnell ent¬
ſchließen und es zu ergreifen wagen.“
Ich fuͤrchte, ſagte ich, daß dieſes ſchwerer iſt als
man glaubt, denn es erfordert eine Umwandlung der
ganzen Denkweiſe. Gelingt es ihm, ſo wird auf jeden
Fall ein augenblicklicher Stillſtand in der Production
eintreten und es wird eine lange Übung erfordern, bis
ihm auch das Objective gelaͤufig und zur zweyten Natur
werde.
„Freylich, erwiederte Goethe, iſt dieſer Überſchritt
ungeheuer; aber er muß nur Muth haben und ſich
ſchnell entſchließen. Es iſt damit wie beym Baden die
Scheu vor dem Waſſer, man muß nur raſch hinein¬
ſpringen und das Element wird unſer ſeyn.“
„Wenn einer ſingen lernen will, fuhr Goethe fort,
ſind ihm alle diejenigen Toͤne, die in ſeiner Kehle liegen,
natuͤrlich und leicht; die andern aber, die nicht in ſeiner
Kehle liegen, ſind ihm anfaͤnglich aͤußerſt ſchwer. Um
aber ein Saͤnger zu werden, muß er ſie uͤberwinden,
denn ſie muͤſſen ihm alle zu Gebote ſtehen. Ebenſo
iſt es mit einem Dichter. Solange er bloß ſeine weni¬
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/259>, abgerufen am 24.11.2024.
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