Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

unterbrochen, das gedachte Manuscript bis zu Ende des
Jahres 1800 vorgelesen und besprochen war, legte
Goethe die Papiere an die Seite und ließ an einem
Ende des großen Tisches, an dem wir saßen, decken
und ein kleines Abendessen bringen. Wir ließen es uns
wohl seyn; Goethe selbst rührte aber keinen Bissen an,
wie ich ihn denn nie Abends habe essen sehen. Er saß
bey uns, schenkte uns ein, putzte die Lichter und er¬
quickte uns überdieß geistig mit den herrlichsten Worten.
Das Andenken Schillers war in ihm so lebendig, daß
die Gespräche dieser letzten Hälfte des Abends nur ihm
gewidmet waren.

Riemer erinnerte an Schillers Persönlichkeit. Der
Bau seiner Glieder, sein Gang auf der Straße, jede
seiner Bewegungen, sagte er, war stolz, nur die Augen
waren sanft. "Ja, sagte Goethe, alles Übrige an ihm
war stolz und großartig, aber seine Augen waren sanft.
Und wie sein Körper war sein Talent. Er griff in
einen großen Gegenstand kühn hinein und betrachtete
und wendete ihn hin und her und sah ihn so an und
so, und handhabte ihn so und so. Er sah seinen Ge¬
genstand gleichsam nur von Außen an, eine stille Ent¬
wickelung aus dem Innern war nicht seine Sache. Sein
Talent war mehr desultorisch. Deßhalb war er auch
nie entschieden und konnte nie fertig werden. Er wech¬
selte oft noch eine Rolle kurz vor der Probe."

"Und wie er überall kühn zu Werke ging, so war

unterbrochen, das gedachte Manuſcript bis zu Ende des
Jahres 1800 vorgeleſen und beſprochen war, legte
Goethe die Papiere an die Seite und ließ an einem
Ende des großen Tiſches, an dem wir ſaßen, decken
und ein kleines Abendeſſen bringen. Wir ließen es uns
wohl ſeyn; Goethe ſelbſt ruͤhrte aber keinen Biſſen an,
wie ich ihn denn nie Abends habe eſſen ſehen. Er ſaß
bey uns, ſchenkte uns ein, putzte die Lichter und er¬
quickte uns uͤberdieß geiſtig mit den herrlichſten Worten.
Das Andenken Schillers war in ihm ſo lebendig, daß
die Geſpraͤche dieſer letzten Haͤlfte des Abends nur ihm
gewidmet waren.

Riemer erinnerte an Schillers Perſoͤnlichkeit. Der
Bau ſeiner Glieder, ſein Gang auf der Straße, jede
ſeiner Bewegungen, ſagte er, war ſtolz, nur die Augen
waren ſanft. „Ja, ſagte Goethe, alles Übrige an ihm
war ſtolz und großartig, aber ſeine Augen waren ſanft.
Und wie ſein Koͤrper war ſein Talent. Er griff in
einen großen Gegenſtand kuͤhn hinein und betrachtete
und wendete ihn hin und her und ſah ihn ſo an und
ſo, und handhabte ihn ſo und ſo. Er ſah ſeinen Ge¬
genſtand gleichſam nur von Außen an, eine ſtille Ent¬
wickelung aus dem Innern war nicht ſeine Sache. Sein
Talent war mehr deſultoriſch. Deßhalb war er auch
nie entſchieden und konnte nie fertig werden. Er wech¬
ſelte oft noch eine Rolle kurz vor der Probe.“

„Und wie er uͤberall kuͤhn zu Werke ging, ſo war

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="5">
            <p><pb facs="#f0216" n="196"/>
unterbrochen, das gedachte Manu&#x017F;cript bis zu Ende des<lb/>
Jahres 1800 vorgele&#x017F;en und be&#x017F;prochen war, legte<lb/>
Goethe die Papiere an die Seite und ließ an einem<lb/>
Ende des großen Ti&#x017F;ches, an dem wir &#x017F;aßen, decken<lb/>
und ein kleines Abende&#x017F;&#x017F;en bringen. Wir ließen es uns<lb/>
wohl &#x017F;eyn; Goethe &#x017F;elb&#x017F;t ru&#x0364;hrte aber keinen Bi&#x017F;&#x017F;en an,<lb/>
wie ich ihn denn nie Abends habe e&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ehen. Er &#x017F;<lb/>
bey uns, &#x017F;chenkte uns ein, putzte die Lichter und er¬<lb/>
quickte uns u&#x0364;berdieß gei&#x017F;tig mit den herrlich&#x017F;ten Worten.<lb/>
Das Andenken Schillers war in ihm &#x017F;o lebendig, daß<lb/>
die Ge&#x017F;pra&#x0364;che die&#x017F;er letzten Ha&#x0364;lfte des Abends nur ihm<lb/>
gewidmet waren.</p><lb/>
            <p>Riemer erinnerte an Schillers Per&#x017F;o&#x0364;nlichkeit. Der<lb/>
Bau &#x017F;einer Glieder, &#x017F;ein Gang auf der Straße, jede<lb/>
&#x017F;einer Bewegungen, &#x017F;agte er, war &#x017F;tolz, nur die Augen<lb/>
waren &#x017F;anft. &#x201E;Ja, &#x017F;agte Goethe, alles Übrige an ihm<lb/>
war &#x017F;tolz und großartig, aber &#x017F;eine Augen waren &#x017F;anft.<lb/>
Und wie &#x017F;ein Ko&#x0364;rper war &#x017F;ein Talent. Er griff in<lb/>
einen großen Gegen&#x017F;tand ku&#x0364;hn hinein und betrachtete<lb/>
und wendete ihn hin und her und &#x017F;ah ihn &#x017F;o an und<lb/>
&#x017F;o, und handhabte ihn &#x017F;o und &#x017F;o. Er &#x017F;ah &#x017F;einen Ge¬<lb/>
gen&#x017F;tand gleich&#x017F;am nur von Außen an, eine &#x017F;tille Ent¬<lb/>
wickelung aus dem Innern war nicht &#x017F;eine Sache. Sein<lb/>
Talent war mehr de&#x017F;ultori&#x017F;ch. Deßhalb war er auch<lb/>
nie ent&#x017F;chieden und konnte nie fertig werden. Er wech¬<lb/>
&#x017F;elte oft noch eine Rolle kurz vor der Probe.&#x201C;</p><lb/>
            <p>&#x201E;Und wie er u&#x0364;berall ku&#x0364;hn zu Werke ging, &#x017F;o war<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[196/0216] unterbrochen, das gedachte Manuſcript bis zu Ende des Jahres 1800 vorgeleſen und beſprochen war, legte Goethe die Papiere an die Seite und ließ an einem Ende des großen Tiſches, an dem wir ſaßen, decken und ein kleines Abendeſſen bringen. Wir ließen es uns wohl ſeyn; Goethe ſelbſt ruͤhrte aber keinen Biſſen an, wie ich ihn denn nie Abends habe eſſen ſehen. Er ſaß bey uns, ſchenkte uns ein, putzte die Lichter und er¬ quickte uns uͤberdieß geiſtig mit den herrlichſten Worten. Das Andenken Schillers war in ihm ſo lebendig, daß die Geſpraͤche dieſer letzten Haͤlfte des Abends nur ihm gewidmet waren. Riemer erinnerte an Schillers Perſoͤnlichkeit. Der Bau ſeiner Glieder, ſein Gang auf der Straße, jede ſeiner Bewegungen, ſagte er, war ſtolz, nur die Augen waren ſanft. „Ja, ſagte Goethe, alles Übrige an ihm war ſtolz und großartig, aber ſeine Augen waren ſanft. Und wie ſein Koͤrper war ſein Talent. Er griff in einen großen Gegenſtand kuͤhn hinein und betrachtete und wendete ihn hin und her und ſah ihn ſo an und ſo, und handhabte ihn ſo und ſo. Er ſah ſeinen Ge¬ genſtand gleichſam nur von Außen an, eine ſtille Ent¬ wickelung aus dem Innern war nicht ſeine Sache. Sein Talent war mehr deſultoriſch. Deßhalb war er auch nie entſchieden und konnte nie fertig werden. Er wech¬ ſelte oft noch eine Rolle kurz vor der Probe.“ „Und wie er uͤberall kuͤhn zu Werke ging, ſo war

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/216
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/216>, abgerufen am 24.11.2024.