die Oberlippe so kräftig aufschwillet und das Kinn so strebend ist und mit den Knochen der Kinnlade so schön zusammenfließt! -- Die Partie um die Augen, die Stirn, ist in diesem colossalen Bilde fast dieselbige ge¬ blieben, alles Übrige ist schwächer und älter. Doch damit will ich das neue Werk nicht schelten, das im Ganzen sehr verdienstlich und sehr zu loben ist.
Goethe erkundigte sich sodann, wie ich in diesen Tagen gelebt und was ich gedacht und getrieben. Ich sagte ihm, daß mir eine Aufforderung zugekommen, unter sehr vortheilhaften Bedingungen für ein englisches Journal monatliche Berichte über die neuesten Erzeug¬ nisse deutscher schöner Prosa einzureichen, und daß ich sehr geneigt sey, das Anerbieten anzunehmen.
Goethe's Gesicht, das bisher so freundlich gewesen, zog sich bey diesen Worten ganz verdrießlich, und ich konnte in jeder seiner Mienen die Mißbilligung meines Vorhabens lesen.
"Ich wollte, sagte er, Ihre Freunde hätten Sie in Ruhe gelassen. Was wollen Sie sich mit Dingen be¬ fassen, die nicht in Ihrem Wege liegen und die den Richtungen Ihrer Natur ganz zuwider sind? Wir haben Gold, Silber und Papiergeld, und jedes hat seinen Werth und seinen Cours, aber um jedes zu würdigen, muß man den Cours kennen. Mit der Literatur ist es nicht anders. Sie wissen wohl die Metalle zu schätzen, aber nicht das Papiergeld, Sie sind darin nicht herge¬
die Oberlippe ſo kraͤftig aufſchwillet und das Kinn ſo ſtrebend iſt und mit den Knochen der Kinnlade ſo ſchoͤn zuſammenfließt! — Die Partie um die Augen, die Stirn, iſt in dieſem coloſſalen Bilde faſt dieſelbige ge¬ blieben, alles Übrige iſt ſchwaͤcher und aͤlter. Doch damit will ich das neue Werk nicht ſchelten, das im Ganzen ſehr verdienſtlich und ſehr zu loben iſt.
Goethe erkundigte ſich ſodann, wie ich in dieſen Tagen gelebt und was ich gedacht und getrieben. Ich ſagte ihm, daß mir eine Aufforderung zugekommen, unter ſehr vortheilhaften Bedingungen fuͤr ein engliſches Journal monatliche Berichte uͤber die neueſten Erzeug¬ niſſe deutſcher ſchoͤner Proſa einzureichen, und daß ich ſehr geneigt ſey, das Anerbieten anzunehmen.
Goethe's Geſicht, das bisher ſo freundlich geweſen, zog ſich bey dieſen Worten ganz verdrießlich, und ich konnte in jeder ſeiner Mienen die Mißbilligung meines Vorhabens leſen.
„Ich wollte, ſagte er, Ihre Freunde haͤtten Sie in Ruhe gelaſſen. Was wollen Sie ſich mit Dingen be¬ faſſen, die nicht in Ihrem Wege liegen und die den Richtungen Ihrer Natur ganz zuwider ſind? Wir haben Gold, Silber und Papiergeld, und jedes hat ſeinen Werth und ſeinen Cours, aber um jedes zu wuͤrdigen, muß man den Cours kennen. Mit der Literatur iſt es nicht anders. Sie wiſſen wohl die Metalle zu ſchaͤtzen, aber nicht das Papiergeld, Sie ſind darin nicht herge¬
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die Oberlippe ſo kraͤftig aufſchwillet und das Kinn ſo
ſtrebend iſt und mit den Knochen der Kinnlade ſo ſchoͤn
zuſammenfließt! — Die Partie um die Augen, die
Stirn, iſt in dieſem coloſſalen Bilde faſt dieſelbige ge¬
blieben, alles Übrige iſt ſchwaͤcher und aͤlter. Doch
damit will ich das neue Werk nicht ſchelten, das im
Ganzen ſehr verdienſtlich und ſehr zu loben iſt.
Goethe erkundigte ſich ſodann, wie ich in dieſen
Tagen gelebt und was ich gedacht und getrieben. Ich
ſagte ihm, daß mir eine Aufforderung zugekommen,
unter ſehr vortheilhaften Bedingungen fuͤr ein engliſches
Journal monatliche Berichte uͤber die neueſten Erzeug¬
niſſe deutſcher ſchoͤner Proſa einzureichen, und daß ich
ſehr geneigt ſey, das Anerbieten anzunehmen.
Goethe's Geſicht, das bisher ſo freundlich geweſen,
zog ſich bey dieſen Worten ganz verdrießlich, und ich
konnte in jeder ſeiner Mienen die Mißbilligung meines
Vorhabens leſen.
„Ich wollte, ſagte er, Ihre Freunde haͤtten Sie in
Ruhe gelaſſen. Was wollen Sie ſich mit Dingen be¬
faſſen, die nicht in Ihrem Wege liegen und die den
Richtungen Ihrer Natur ganz zuwider ſind? Wir haben
Gold, Silber und Papiergeld, und jedes hat ſeinen
Werth und ſeinen Cours, aber um jedes zu wuͤrdigen,
muß man den Cours kennen. Mit der Literatur iſt es
nicht anders. Sie wiſſen wohl die Metalle zu ſchaͤtzen,
aber nicht das Papiergeld, Sie ſind darin nicht herge¬
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/191>, abgerufen am 23.11.2024.
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