"Eine fernere große Masse zeigt sich als meine Gegner aus abweichender Denkungsweise und verschiedenen Ansichten. Man sagt von den Blät¬ tern eines Baumes, daß deren kaum zwey vollkommen gleich befunden werden, und so möchten sich auch unter tausend Menschen kaum zwey finden, die in ihrer Ge¬ sinnungs- und Denkungsweise vollkommen harmoniren. Setze ich dieses voraus, so sollte ich mich billig weniger darüber wundern, daß die Zahl meiner Widersacher so groß ist, als vielmehr darüber, daß ich noch so viele Freunde und Anhänger habe. Meine ganze Zeit wich vor mir ab, denn sie war ganz in subjectiver Richtung begriffen, während ich in meinem objectiven Bestreben im Nachtheile und völlig allein stand."
"Schiller hatte in dieser Hinsicht vor mir große Avantagen. Ein wohlmeinender General gab mir daher einst nicht undeutlich zu verstehen, ich möchte es doch machen, wie Schiller. Darauf setzte ich ihm Schillers Verdienste erst recht auseinander, denn ich kannte sie doch besser als er. Ich ging auf meinem Wege ruhig fort, ohne mich um den Succeß weiter zu bekümmern, und von allen meinen Gegnern nahm ich so wenige Notiz als möglich."
Wir fuhren zurück und waren darauf bey Tische sehr heiter. Frau von Goethe erzählte viel von Berlin, woher sie vor Kurzem gekommen; sie sprach mit beson¬ derer Wärme von der Herzogin von Cumberland, die
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„Eine fernere große Maſſe zeigt ſich als meine Gegner aus abweichender Denkungsweiſe und verſchiedenen Anſichten. Man ſagt von den Blaͤt¬ tern eines Baumes, daß deren kaum zwey vollkommen gleich befunden werden, und ſo moͤchten ſich auch unter tauſend Menſchen kaum zwey finden, die in ihrer Ge¬ ſinnungs- und Denkungsweiſe vollkommen harmoniren. Setze ich dieſes voraus, ſo ſollte ich mich billig weniger daruͤber wundern, daß die Zahl meiner Widerſacher ſo groß iſt, als vielmehr daruͤber, daß ich noch ſo viele Freunde und Anhaͤnger habe. Meine ganze Zeit wich vor mir ab, denn ſie war ganz in ſubjectiver Richtung begriffen, waͤhrend ich in meinem objectiven Beſtreben im Nachtheile und voͤllig allein ſtand.“
„Schiller hatte in dieſer Hinſicht vor mir große Avantagen. Ein wohlmeinender General gab mir daher einſt nicht undeutlich zu verſtehen, ich moͤchte es doch machen, wie Schiller. Darauf ſetzte ich ihm Schillers Verdienſte erſt recht auseinander, denn ich kannte ſie doch beſſer als er. Ich ging auf meinem Wege ruhig fort, ohne mich um den Succeß weiter zu bekuͤmmern, und von allen meinen Gegnern nahm ich ſo wenige Notiz als moͤglich.“
Wir fuhren zuruͤck und waren darauf bey Tiſche ſehr heiter. Frau von Goethe erzaͤhlte viel von Berlin, woher ſie vor Kurzem gekommen; ſie ſprach mit beſon¬ derer Waͤrme von der Herzogin von Cumberland, die
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„Eine fernere große Maſſe zeigt ſich als meine
Gegner aus abweichender Denkungsweiſe und
verſchiedenen Anſichten. Man ſagt von den Blaͤt¬
tern eines Baumes, daß deren kaum zwey vollkommen
gleich befunden werden, und ſo moͤchten ſich auch unter
tauſend Menſchen kaum zwey finden, die in ihrer Ge¬
ſinnungs- und Denkungsweiſe vollkommen harmoniren.
Setze ich dieſes voraus, ſo ſollte ich mich billig weniger
daruͤber wundern, daß die Zahl meiner Widerſacher
ſo groß iſt, als vielmehr daruͤber, daß ich noch ſo viele
Freunde und Anhaͤnger habe. Meine ganze Zeit wich
vor mir ab, denn ſie war ganz in ſubjectiver Richtung
begriffen, waͤhrend ich in meinem objectiven Beſtreben
im Nachtheile und voͤllig allein ſtand.“
„Schiller hatte in dieſer Hinſicht vor mir große
Avantagen. Ein wohlmeinender General gab mir daher
einſt nicht undeutlich zu verſtehen, ich moͤchte es doch
machen, wie Schiller. Darauf ſetzte ich ihm Schillers
Verdienſte erſt recht auseinander, denn ich kannte ſie
doch beſſer als er. Ich ging auf meinem Wege ruhig
fort, ohne mich um den Succeß weiter zu bekuͤmmern,
und von allen meinen Gegnern nahm ich ſo wenige
Notiz als moͤglich.“
Wir fuhren zuruͤck und waren darauf bey Tiſche
ſehr heiter. Frau von Goethe erzaͤhlte viel von Berlin,
woher ſie vor Kurzem gekommen; ſie ſprach mit beſon¬
derer Waͤrme von der Herzogin von Cumberland, die
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/167>, abgerufen am 26.11.2024.
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