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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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wohl nur die Welt des Innern dabey im Sinne, aber
nicht die empirische Welt der Erscheinung und Convenienz;
und wenn also dem Dichter eine wahre Darstellung
derselben gelingen soll, so muß doch wohl die Erforschung
des Wirklichen hinzukommen?

"Allerdings, erwiederte Goethe, es ist so. -- Die
Region der Liebe, des Hasses, der Hoffnung, der
Verzweiflung und wie die Zustände und Leidenschaften
der Seele heißen, ist dem Dichter angeboren und ihre
Darstellung gelingt ihm. Es ist aber nicht angeboren:
wie man Gericht hält, oder wie man im Parlament
oder bey einer Kaiserkrönung verfährt, und um nicht
gegen die Wahrheit solcher Dinge zu verstoßen, muß
der Dichter sie aus Erfahrung oder Überlieferung sich
aneignen. So konnte ich im Faust den düstern Zustand
des Lebensüberdrusses im Helden, so wie die Liebes¬
empfindungen Gretchens recht gut durch Anticipation in
meiner Macht haben; allein um z. B. zu sagen:
Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe
Des späten Monds mit feuchter Glut heran
,

bedurfte es einiger Beobachtung der Natur."

Es ist aber, sagte ich, im ganzen Faust keine Zeile,
die nicht von sorgfältiger Durchforschung der Welt und
des Lebens unverkennbare Spuren trüge, und man
wird keineswegs erinnert, als sey Ihnen das alles, ohne
die reichste Erfahrung, nur so geschenkt worden.

wohl nur die Welt des Innern dabey im Sinne, aber
nicht die empiriſche Welt der Erſcheinung und Convenienz;
und wenn alſo dem Dichter eine wahre Darſtellung
derſelben gelingen ſoll, ſo muß doch wohl die Erforſchung
des Wirklichen hinzukommen?

„Allerdings, erwiederte Goethe, es iſt ſo. — Die
Region der Liebe, des Haſſes, der Hoffnung, der
Verzweiflung und wie die Zuſtaͤnde und Leidenſchaften
der Seele heißen, iſt dem Dichter angeboren und ihre
Darſtellung gelingt ihm. Es iſt aber nicht angeboren:
wie man Gericht haͤlt, oder wie man im Parlament
oder bey einer Kaiſerkroͤnung verfaͤhrt, und um nicht
gegen die Wahrheit ſolcher Dinge zu verſtoßen, muß
der Dichter ſie aus Erfahrung oder Überlieferung ſich
aneignen. So konnte ich im Fauſt den duͤſtern Zuſtand
des Lebensuͤberdruſſes im Helden, ſo wie die Liebes¬
empfindungen Gretchens recht gut durch Anticipation in
meiner Macht haben; allein um z. B. zu ſagen:
Wie traurig ſteigt die unvollkommne Scheibe
Des ſpaͤten Monds mit feuchter Glut heran
,

bedurfte es einiger Beobachtung der Natur.“

Es iſt aber, ſagte ich, im ganzen Fauſt keine Zeile,
die nicht von ſorgfaͤltiger Durchforſchung der Welt und
des Lebens unverkennbare Spuren truͤge, und man
wird keineswegs erinnert, als ſey Ihnen das alles, ohne
die reichſte Erfahrung, nur ſo geſchenkt worden.

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[128/0148] wohl nur die Welt des Innern dabey im Sinne, aber nicht die empiriſche Welt der Erſcheinung und Convenienz; und wenn alſo dem Dichter eine wahre Darſtellung derſelben gelingen ſoll, ſo muß doch wohl die Erforſchung des Wirklichen hinzukommen? „Allerdings, erwiederte Goethe, es iſt ſo. — Die Region der Liebe, des Haſſes, der Hoffnung, der Verzweiflung und wie die Zuſtaͤnde und Leidenſchaften der Seele heißen, iſt dem Dichter angeboren und ihre Darſtellung gelingt ihm. Es iſt aber nicht angeboren: wie man Gericht haͤlt, oder wie man im Parlament oder bey einer Kaiſerkroͤnung verfaͤhrt, und um nicht gegen die Wahrheit ſolcher Dinge zu verſtoßen, muß der Dichter ſie aus Erfahrung oder Überlieferung ſich aneignen. So konnte ich im Fauſt den duͤſtern Zuſtand des Lebensuͤberdruſſes im Helden, ſo wie die Liebes¬ empfindungen Gretchens recht gut durch Anticipation in meiner Macht haben; allein um z. B. zu ſagen: Wie traurig ſteigt die unvollkommne Scheibe Des ſpaͤten Monds mit feuchter Glut heran, bedurfte es einiger Beobachtung der Natur.“ Es iſt aber, ſagte ich, im ganzen Fauſt keine Zeile, die nicht von ſorgfaͤltiger Durchforſchung der Welt und des Lebens unverkennbare Spuren truͤge, und man wird keineswegs erinnert, als ſey Ihnen das alles, ohne die reichſte Erfahrung, nur ſo geſchenkt worden.

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/148>, abgerufen am 27.11.2024.