in Eiden zu mißbrauchen, für frevelhaft; düster und un- freundlich zu sein, für verwerflich. -- Wenn sich Mit- glieder des Hauses vergessen und mit einander in Streit gerathen, so dürfen sie die Sonne nicht untergehen lassen, ohne sich die Hand gereicht und einander von Herzen ver- geben zu haben. Sobald sich Meinungsverschiedenheiten zeigen, rufen wir das Urtheil des Meisters an und unter- werfen uns um so lieber seiner Ansicht, je klarer und ein- gehender er dieselbe mit wunderbar wenigen Worten aus- zusprechen weiß. Jeder Widerspruch schweigt augenblicklich, wenn er mit dem einfachen Satze: "Er hat's gesagt!" angefochten werden kann.
"Nach diesen den Geist anregenden und das Erlernte durch Wiederholung befestigenden Gesprächen begeben wir uns in die wohlgeheizten Badestuben und von dort mit erfrischtem und gereinigtem Körper zur Abendmahlzeit, welche, gleich dem Mittagessen, ebenso einfach als schmack- haft zu sein pflegt. Ehe wir uns auf die Polster nieder- lassen, spenden wir den Göttern Trank- und Weihrauch- opfer. Je zehn Freunde liegen an einem Tische und führen während des Essens ungezwungene, doch niemals leicht- fertige Gespräche. Vor Sonnenuntergang werden die Speisen abgetragen, und wir treten in's Freie, um dem scheidenden Apollo unsere Grüße und Gebete darzubringen.
"Wenn es dunkelt, versammeln wir uns am flammen- den Herde und hören dem Jüngsten von uns zu, welcher diejenigen Stellen aus den besten Schriftstellern vorliest, die der Aelteste und Weiseste auszuwählen pflegt. Nach- dem wir uns hierauf ,eine ruhige Nacht' und ,günstige Träume' gewünscht haben, begibt sich Jeder in sein Zimmer. Hier pflegen wir die unruhigen Sinne durch Töne zu sänftigen und versinken in friedlichen Schlaf, nicht ohne
in Eiden zu mißbrauchen, für frevelhaft; düſter und un- freundlich zu ſein, für verwerflich. — Wenn ſich Mit- glieder des Hauſes vergeſſen und mit einander in Streit gerathen, ſo dürfen ſie die Sonne nicht untergehen laſſen, ohne ſich die Hand gereicht und einander von Herzen ver- geben zu haben. Sobald ſich Meinungsverſchiedenheiten zeigen, rufen wir das Urtheil des Meiſters an und unter- werfen uns um ſo lieber ſeiner Anſicht, je klarer und ein- gehender er dieſelbe mit wunderbar wenigen Worten aus- zuſprechen weiß. Jeder Widerſpruch ſchweigt augenblicklich, wenn er mit dem einfachen Satze: „Er hat’s geſagt!“ angefochten werden kann.
„Nach dieſen den Geiſt anregenden und das Erlernte durch Wiederholung befeſtigenden Geſprächen begeben wir uns in die wohlgeheizten Badeſtuben und von dort mit erfriſchtem und gereinigtem Körper zur Abendmahlzeit, welche, gleich dem Mittageſſen, ebenſo einfach als ſchmack- haft zu ſein pflegt. Ehe wir uns auf die Polſter nieder- laſſen, ſpenden wir den Göttern Trank- und Weihrauch- opfer. Je zehn Freunde liegen an einem Tiſche und führen während des Eſſens ungezwungene, doch niemals leicht- fertige Geſpräche. Vor Sonnenuntergang werden die Speiſen abgetragen, und wir treten in’s Freie, um dem ſcheidenden Apollo unſere Grüße und Gebete darzubringen.
„Wenn es dunkelt, verſammeln wir uns am flammen- den Herde und hören dem Jüngſten von uns zu, welcher diejenigen Stellen aus den beſten Schriftſtellern vorliest, die der Aelteſte und Weiſeſte auszuwählen pflegt. Nach- dem wir uns hierauf ‚eine ruhige Nacht‘ und ‚günſtige Träume‘ gewünſcht haben, begibt ſich Jeder in ſein Zimmer. Hier pflegen wir die unruhigen Sinne durch Töne zu ſänftigen und verſinken in friedlichen Schlaf, nicht ohne
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in Eiden zu mißbrauchen, für frevelhaft; düſter und un-
freundlich zu ſein, für verwerflich. — Wenn ſich Mit-
glieder des Hauſes vergeſſen und mit einander in Streit
gerathen, ſo dürfen ſie die Sonne nicht untergehen laſſen,
ohne ſich die Hand gereicht und einander von Herzen ver-
geben zu haben. Sobald ſich Meinungsverſchiedenheiten
zeigen, rufen wir das Urtheil des Meiſters an und unter-
werfen uns um ſo lieber ſeiner Anſicht, je klarer und ein-
gehender er dieſelbe mit wunderbar wenigen Worten aus-
zuſprechen weiß. Jeder Widerſpruch ſchweigt augenblicklich,
wenn er mit dem einfachen Satze: „Er hat’s geſagt!“
angefochten werden kann.
„Nach dieſen den Geiſt anregenden und das Erlernte
durch Wiederholung befeſtigenden Geſprächen begeben wir
uns in die wohlgeheizten Badeſtuben und von dort mit
erfriſchtem und gereinigtem Körper zur Abendmahlzeit,
welche, gleich dem Mittageſſen, ebenſo einfach als ſchmack-
haft zu ſein pflegt. Ehe wir uns auf die Polſter nieder-
laſſen, ſpenden wir den Göttern Trank- und Weihrauch-
opfer. Je zehn Freunde liegen an einem Tiſche und führen
während des Eſſens ungezwungene, doch niemals leicht-
fertige Geſpräche. Vor Sonnenuntergang werden die
Speiſen abgetragen, und wir treten in’s Freie, um dem
ſcheidenden Apollo unſere Grüße und Gebete darzubringen.
„Wenn es dunkelt, verſammeln wir uns am flammen-
den Herde und hören dem Jüngſten von uns zu, welcher
diejenigen Stellen aus den beſten Schriftſtellern vorliest,
die der Aelteſte und Weiſeſte auszuwählen pflegt. Nach-
dem wir uns hierauf ‚eine ruhige Nacht‘ und ‚günſtige
Träume‘ gewünſcht haben, begibt ſich Jeder in ſein Zimmer.
Hier pflegen wir die unruhigen Sinne durch Töne zu
ſänftigen und verſinken in friedlichen Schlaf, nicht ohne
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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter03_1864/253>, abgerufen am 16.07.2024.
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