Alter muß man jedes neue Jahr als ein unverdientes Göttergeschenk hinnehmen, während die Jugend das Leben, als etwas von selbst Verständliches, als ein unbestreitbares Eigenthum betrachtet."
"Wie beneide ich Dich um Deinen frohen Lebens- muth," seufzte Kassandane. "Jch bin jünger als Du; aber jeder neue Tag, dessen Aufgang zu sehen mir die Götter versagen, kommt mir vor, wie eine neue Strafe der Unsterblichen."
"Höre ich die Gattin des großen Kyros reden?" fragte Krösus. "Seit wann ist der Muth und die Zu- versicht aus dem starken Herzen der Kassandane gewichen? -- Du wirst wieder sehend werden, sage ich Dir, und, wie ich, den Göttern für Dein schönes hohes Alter dan- ken. Wer recht krank gewesen ist, der weiß das Glück der Gesundheit hundertfach zu schätzen, wer blind war und das Augenlicht wieder gewinnt, der muß ein ganz beson- derer Freund der ewigen Götter sein. -- Male Dir nur die Wonne des Augenblickes, in welchem Du nach langen Jahren zum Erstenmale das Glanzlicht der Sonne, die Häupter Deiner Lieben und die Schönheit des Geschaffnen wiedersehen wirst, recht deutlich aus, und gestehe mir, daß die Herrlichkeit dieser Stunde ein ganzes Leben der Nacht und Blindheit aufwiegen kann 33). Wenn Du geheilt sein wirst, dann beginnt für Dich, im Greisenalter, ein neues, junges Leben, und ich höre Dich schon meinem Freunde Solon beistimmen."
"Was sagte dieser?" fragte Atossa.
"Er wünschte, Mimneros von Kolophon 34), welcher gesungen hatte, -- ein schönes Leben müsse mit dem sech- zigsten Jahre enden, -- möge seine Verse verbessern und aus der Sechzig eine Achtzig machen."
Alter muß man jedes neue Jahr als ein unverdientes Göttergeſchenk hinnehmen, während die Jugend das Leben, als etwas von ſelbſt Verſtändliches, als ein unbeſtreitbares Eigenthum betrachtet.“
„Wie beneide ich Dich um Deinen frohen Lebens- muth,“ ſeufzte Kaſſandane. „Jch bin jünger als Du; aber jeder neue Tag, deſſen Aufgang zu ſehen mir die Götter verſagen, kommt mir vor, wie eine neue Strafe der Unſterblichen.“
„Höre ich die Gattin des großen Kyros reden?“ fragte Kröſus. „Seit wann iſt der Muth und die Zu- verſicht aus dem ſtarken Herzen der Kaſſandane gewichen? — Du wirſt wieder ſehend werden, ſage ich Dir, und, wie ich, den Göttern für Dein ſchönes hohes Alter dan- ken. Wer recht krank geweſen iſt, der weiß das Glück der Geſundheit hundertfach zu ſchätzen, wer blind war und das Augenlicht wieder gewinnt, der muß ein ganz beſon- derer Freund der ewigen Götter ſein. — Male Dir nur die Wonne des Augenblickes, in welchem Du nach langen Jahren zum Erſtenmale das Glanzlicht der Sonne, die Häupter Deiner Lieben und die Schönheit des Geſchaffnen wiederſehen wirſt, recht deutlich aus, und geſtehe mir, daß die Herrlichkeit dieſer Stunde ein ganzes Leben der Nacht und Blindheit aufwiegen kann 33). Wenn Du geheilt ſein wirſt, dann beginnt für Dich, im Greiſenalter, ein neues, junges Leben, und ich höre Dich ſchon meinem Freunde Solon beiſtimmen.“
„Was ſagte dieſer?“ fragte Atoſſa.
„Er wünſchte, Mimneros von Kolophon 34), welcher geſungen hatte, — ein ſchönes Leben müſſe mit dem ſech- zigſten Jahre enden, — möge ſeine Verſe verbeſſern und aus der Sechzig eine Achtzig machen.“
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Alter muß man jedes neue Jahr als ein unverdientes
Göttergeſchenk hinnehmen, während die Jugend das Leben,
als etwas von ſelbſt Verſtändliches, als ein unbeſtreitbares
Eigenthum betrachtet.“
„Wie beneide ich Dich um Deinen frohen Lebens-
muth,“ ſeufzte Kaſſandane. „Jch bin jünger als Du;
aber jeder neue Tag, deſſen Aufgang zu ſehen mir die
Götter verſagen, kommt mir vor, wie eine neue Strafe
der Unſterblichen.“
„Höre ich die Gattin des großen Kyros reden?“
fragte Kröſus. „Seit wann iſt der Muth und die Zu-
verſicht aus dem ſtarken Herzen der Kaſſandane gewichen?
— Du wirſt wieder ſehend werden, ſage ich Dir, und,
wie ich, den Göttern für Dein ſchönes hohes Alter dan-
ken. Wer recht krank geweſen iſt, der weiß das Glück
der Geſundheit hundertfach zu ſchätzen, wer blind war und
das Augenlicht wieder gewinnt, der muß ein ganz beſon-
derer Freund der ewigen Götter ſein. — Male Dir nur
die Wonne des Augenblickes, in welchem Du nach langen
Jahren zum Erſtenmale das Glanzlicht der Sonne, die
Häupter Deiner Lieben und die Schönheit des Geſchaffnen
wiederſehen wirſt, recht deutlich aus, und geſtehe mir, daß
die Herrlichkeit dieſer Stunde ein ganzes Leben der Nacht
und Blindheit aufwiegen kann 33). Wenn Du geheilt ſein
wirſt, dann beginnt für Dich, im Greiſenalter, ein neues,
junges Leben, und ich höre Dich ſchon meinem Freunde
Solon beiſtimmen.“
„Was ſagte dieſer?“ fragte Atoſſa.
„Er wünſchte, Mimneros von Kolophon 34), welcher
geſungen hatte, — ein ſchönes Leben müſſe mit dem ſech-
zigſten Jahre enden, — möge ſeine Verſe verbeſſern und
aus der Sechzig eine Achtzig machen.“
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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/46>, abgerufen am 22.07.2024.
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