Atossa. "Euer Aegypten muß ganz, ganz anders sein, als Persien und Alles, was ich bisher gesehen habe. Die fruchtbaren Ufer des ungeheuren Stromes, der noch grö- ßer ist als unser Euphrat, die Götterhäuser mit den vielen bunten Säulen, die künstlichen Berge der Pyrami- den, in denen uralte Könige begraben liegen, das Alles muß einen köstlichen Anblick gewähren! Am schönsten aber denke ich mir eure Gastmähler, bei denen sich Männer und Frauen unterreden, wie sie wollen. Wir Perserinnen dürfen auch am Neujahrs- und am Geburtstagsfeste des Kö- nigs in Gesellschaft der Männer schmausen, aber das Re- den ist uns dann verboten, ja es wäre sogar unschicklich, wenn wir die Augen aufschlagen wollten. Wie anders ist es bei euch! -- Beim Mithra, Mutter, ich möchte eine Aegypterin werden, denn wir Armen sind ja nichts, als elende Sclavinnen, und ich fühle doch, daß auch ich ein Kind des großen Kyros und eben so viel werth bin, als die meisten Männer. Rede ich nicht die Wahrheit, kann ich nicht befehlen und gehorchen, sehne ich mich nicht nach Ruhm, könnt' ich nicht reiten, den Bogen spannen, fechten und schwimmen lernen, wenn man mich nur üben und kräftigen wollte?"
Das Mädchen war mit flammenden Augen von ihrem Sitze aufgesprungen und schwang ihre Spindel, ohne da- rauf zu achten, daß der Flachs sich verwirrte und der Faden riß.
"Bedenke, was sich ziemt," mahnte Kassandane. "Das Weib soll sich in Demuth ihrem stillen Geschick unter- werfen und nicht nach den Thaten des Mannes streben."
"Aber es gibt doch Weiber, welche gleich den Män- nern leben," rief Atossa. "Am Thermodon in Themiskyra und am Jrisstrom zu Komana wohnen jene Amazonen, die
Atoſſa. „Euer Aegypten muß ganz, ganz anders ſein, als Perſien und Alles, was ich bisher geſehen habe. Die fruchtbaren Ufer des ungeheuren Stromes, der noch grö- ßer iſt als unſer Euphrat, die Götterhäuſer mit den vielen bunten Säulen, die künſtlichen Berge der Pyrami- den, in denen uralte Könige begraben liegen, das Alles muß einen köſtlichen Anblick gewähren! Am ſchönſten aber denke ich mir eure Gaſtmähler, bei denen ſich Männer und Frauen unterreden, wie ſie wollen. Wir Perſerinnen dürfen auch am Neujahrs- und am Geburtstagsfeſte des Kö- nigs in Geſellſchaft der Männer ſchmauſen, aber das Re- den iſt uns dann verboten, ja es wäre ſogar unſchicklich, wenn wir die Augen aufſchlagen wollten. Wie anders iſt es bei euch! — Beim Mithra, Mutter, ich möchte eine Aegypterin werden, denn wir Armen ſind ja nichts, als elende Sclavinnen, und ich fühle doch, daß auch ich ein Kind des großen Kyros und eben ſo viel werth bin, als die meiſten Männer. Rede ich nicht die Wahrheit, kann ich nicht befehlen und gehorchen, ſehne ich mich nicht nach Ruhm, könnt’ ich nicht reiten, den Bogen ſpannen, fechten und ſchwimmen lernen, wenn man mich nur üben und kräftigen wollte?“
Das Mädchen war mit flammenden Augen von ihrem Sitze aufgeſprungen und ſchwang ihre Spindel, ohne da- rauf zu achten, daß der Flachs ſich verwirrte und der Faden riß.
„Bedenke, was ſich ziemt,“ mahnte Kaſſandane. „Das Weib ſoll ſich in Demuth ihrem ſtillen Geſchick unter- werfen und nicht nach den Thaten des Mannes ſtreben.“
„Aber es gibt doch Weiber, welche gleich den Män- nern leben,“ rief Atoſſa. „Am Thermodon in Themiskyra und am Jrisſtrom zu Komana wohnen jene Amazonen, die
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Atoſſa. „Euer Aegypten muß ganz, ganz anders ſein,
als Perſien und Alles, was ich bisher geſehen habe. Die
fruchtbaren Ufer des ungeheuren Stromes, der noch grö-
ßer iſt als unſer Euphrat, die Götterhäuſer mit den
vielen bunten Säulen, die künſtlichen Berge der Pyrami-
den, in denen uralte Könige begraben liegen, das Alles
muß einen köſtlichen Anblick gewähren! Am ſchönſten aber
denke ich mir eure Gaſtmähler, bei denen ſich Männer und
Frauen unterreden, wie ſie wollen. Wir Perſerinnen
dürfen auch am Neujahrs- und am Geburtstagsfeſte des Kö-
nigs in Geſellſchaft der Männer ſchmauſen, aber das Re-
den iſt uns dann verboten, ja es wäre ſogar unſchicklich,
wenn wir die Augen aufſchlagen wollten. Wie anders iſt
es bei euch! — Beim Mithra, Mutter, ich möchte eine
Aegypterin werden, denn wir Armen ſind ja nichts, als
elende Sclavinnen, und ich fühle doch, daß auch ich ein
Kind des großen Kyros und eben ſo viel werth bin, als
die meiſten Männer. Rede ich nicht die Wahrheit, kann
ich nicht befehlen und gehorchen, ſehne ich mich nicht nach
Ruhm, könnt’ ich nicht reiten, den Bogen ſpannen, fechten
und ſchwimmen lernen, wenn man mich nur üben und
kräftigen wollte?“
Das Mädchen war mit flammenden Augen von ihrem
Sitze aufgeſprungen und ſchwang ihre Spindel, ohne da-
rauf zu achten, daß der Flachs ſich verwirrte und der
Faden riß.
„Bedenke, was ſich ziemt,“ mahnte Kaſſandane. „Das
Weib ſoll ſich in Demuth ihrem ſtillen Geſchick unter-
werfen und nicht nach den Thaten des Mannes ſtreben.“
„Aber es gibt doch Weiber, welche gleich den Män-
nern leben,“ rief Atoſſa. „Am Thermodon in Themiskyra
und am Jrisſtrom zu Komana wohnen jene Amazonen, die
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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/43>, abgerufen am 22.07.2024.
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