Hätte das schöne Kind nur noch ein einziges Jährchen ge- lebt, so würde es in der Heimat gestorben sein, und wir hätten es bestatten können in der Grube seiner Väter. Aber Kyros der Perser, Jehovah segne seine Nachkommen, hat uns zu spät befreit um ein Jahr, und ich beweine das Kind meines Herzens doppelt, weil sein Grab gegra- ben ward im Lande der Feinde Jsraels. Gibt es etwas Schlimmeres, als zu sehen, wie unsere Kinder, der reichste Schatz, den wir haben, vor uns in die Grube fahren? Und, Jehovah sei mir gnädig, solch treffliches Kind, wie Dein Sohn gewesen, zu verlieren, wenn er eben gewor- den ist zum ruhmreichen Manne, das muß der größte Schmerz sein aller Schmerzen!"
Der Spartaner entfernte die Hände von dem strengen Angesichte und erwiederte unter Thränen lächelnd: "Du irrst, Phöniker; ich weine vor Freude, nicht vor Schmerz, und gerne hätt' ich auch meinen zweiten Sohn verloren, wenn er gestorben wäre wie mein Lysander."
Der Jsraelit, entsetzt über diesen gottlosen Ausspruch, schüttelte nur mißbilligend den Kopf; -- die anwesenden Hellenen aber überschütteten den vielbeneideten Greis mit Glückwünschen. Dieser schien vor hoher Wonne um viele Jahre jünger geworden zu sein, und rief Rhodopis zu: "Wahrlich, Freundin; Dein Haus ist für mich ein geseg- netes, denn seitdem ich es betreten, ist dies die zweite Göttergabe, welche mir in demselben zu Theil wird!" "Und welches war die erste?" fragte die Greisin. "Ein günstiges Orakel." "Du vergißt die dritte!" rief Pha- nes, "am heutigen Tage haben die Götter Dich auch Rho- dopis kennen gelehrt. Aber was war es mit dem Ora- kel?" "Darf ich's den Freunden mittheilen?" fragte der Delphier.
Hätte das ſchöne Kind nur noch ein einziges Jährchen ge- lebt, ſo würde es in der Heimat geſtorben ſein, und wir hätten es beſtatten können in der Grube ſeiner Väter. Aber Kyros der Perſer, Jehovah ſegne ſeine Nachkommen, hat uns zu ſpät befreit um ein Jahr, und ich beweine das Kind meines Herzens doppelt, weil ſein Grab gegra- ben ward im Lande der Feinde Jſraels. Gibt es etwas Schlimmeres, als zu ſehen, wie unſere Kinder, der reichſte Schatz, den wir haben, vor uns in die Grube fahren? Und, Jehovah ſei mir gnädig, ſolch treffliches Kind, wie Dein Sohn geweſen, zu verlieren, wenn er eben gewor- den iſt zum ruhmreichen Manne, das muß der größte Schmerz ſein aller Schmerzen!“
Der Spartaner entfernte die Hände von dem ſtrengen Angeſichte und erwiederte unter Thränen lächelnd: „Du irrſt, Phöniker; ich weine vor Freude, nicht vor Schmerz, und gerne hätt’ ich auch meinen zweiten Sohn verloren, wenn er geſtorben wäre wie mein Lyſander.“
Der Jſraelit, entſetzt über dieſen gottloſen Ausſpruch, ſchüttelte nur mißbilligend den Kopf; — die anweſenden Hellenen aber überſchütteten den vielbeneideten Greis mit Glückwünſchen. Dieſer ſchien vor hoher Wonne um viele Jahre jünger geworden zu ſein, und rief Rhodopis zu: „Wahrlich, Freundin; Dein Haus iſt für mich ein geſeg- netes, denn ſeitdem ich es betreten, iſt dies die zweite Göttergabe, welche mir in demſelben zu Theil wird!“ „Und welches war die erſte?“ fragte die Greiſin. „Ein günſtiges Orakel.“ „Du vergißt die dritte!“ rief Pha- nes, „am heutigen Tage haben die Götter Dich auch Rho- dopis kennen gelehrt. Aber was war es mit dem Ora- kel?“ „Darf ich’s den Freunden mittheilen?“ fragte der Delphier.
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Hätte das ſchöne Kind nur noch ein einziges Jährchen ge-
lebt, ſo würde es in der Heimat geſtorben ſein, und wir
hätten es beſtatten können in der Grube ſeiner Väter.
Aber Kyros der Perſer, Jehovah ſegne ſeine Nachkommen,
hat uns zu ſpät befreit um ein Jahr, und ich beweine
das Kind meines Herzens doppelt, weil ſein Grab gegra-
ben ward im Lande der Feinde Jſraels. Gibt es etwas
Schlimmeres, als zu ſehen, wie unſere Kinder, der reichſte
Schatz, den wir haben, vor uns in die Grube fahren?
Und, Jehovah ſei mir gnädig, ſolch treffliches Kind, wie
Dein Sohn geweſen, zu verlieren, wenn er eben gewor-
den iſt zum ruhmreichen Manne, das muß der größte Schmerz
ſein aller Schmerzen!“
Der Spartaner entfernte die Hände von dem ſtrengen
Angeſichte und erwiederte unter Thränen lächelnd: „Du irrſt,
Phöniker; ich weine vor Freude, nicht vor Schmerz, und
gerne hätt’ ich auch meinen zweiten Sohn verloren, wenn
er geſtorben wäre wie mein Lyſander.“
Der Jſraelit, entſetzt über dieſen gottloſen Ausſpruch,
ſchüttelte nur mißbilligend den Kopf; — die anweſenden
Hellenen aber überſchütteten den vielbeneideten Greis mit
Glückwünſchen. Dieſer ſchien vor hoher Wonne um viele
Jahre jünger geworden zu ſein, und rief Rhodopis zu:
„Wahrlich, Freundin; Dein Haus iſt für mich ein geſeg-
netes, denn ſeitdem ich es betreten, iſt dies die zweite
Göttergabe, welche mir in demſelben zu Theil wird!“
„Und welches war die erſte?“ fragte die Greiſin. „Ein
günſtiges Orakel.“ „Du vergißt die dritte!“ rief Pha-
nes, „am heutigen Tage haben die Götter Dich auch Rho-
dopis kennen gelehrt. Aber was war es mit dem Ora-
kel?“ „Darf ich’s den Freunden mittheilen?“ fragte der
Delphier.
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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 1. Stuttgart, 1864, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter01_1864/60>, abgerufen am 24.02.2025.
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