kleines Röllchen von pergamentartigem Schafleder hervor, auf dem mehrere Zeilen geschrieben waren.
Die Hände des riesenstarken, tapferen Spartaners zitterten, als er nach dem Röllchen griff. Er starrte die Schriftzüge an, als wolle er mit seinen Blicken das Leder durchbohren. -- Dann besann er sich, schüttelte mißmuthig die grauen Locken und sagte:
"Wir Spartaner lernen andere Künste, als Lesen und Schreiben. Wenn Du kannst, so lies mir vor, was Pythia sagt."
Der Delphier überflog die Schrift und erwiederte: "Freue Dich! Loxias 38) verheißt Dir eine glückliche Heim- kehr; höre, was Dir die Priesterin verkündet:
"Wenn einst die reisige Schaar von schneeigen Bergen herabsteigt Zu den Gefilden des Stroms, welcher die Ebne benetzt, Führt Dich der zaudernde Kahn herab zu jenem Gefilde, Welches dem irrenden Fuß heimischen Frieden gewährt; Wenn einst die reisige Schaar von schneeigen Bergen herabsteigt, Schenkt Dir die richtende Fünf, was sie Dir lange versagt!"
Gespannten Ohres lauschte der Spartaner diesen Worten. Zum zweiten Male ließ er sich den Spruch des Orakels vorlesen, dann wiederholte er denselben aus dem Gedächtnisse, dankte Phryxos, und steckte das Röllchen zu sich.
Der Delphier mischte sich in das allgemeine Gespräch; der Spartaner aber murmelte den Spruch des Orakels unaufhörlich vor sich hin, um ihn ja nicht zu vergessen, und bemühte sich die räthselhaften Worte zu deuten.
kleines Röllchen von pergamentartigem Schafleder hervor, auf dem mehrere Zeilen geſchrieben waren.
Die Hände des rieſenſtarken, tapferen Spartaners zitterten, als er nach dem Röllchen griff. Er ſtarrte die Schriftzüge an, als wolle er mit ſeinen Blicken das Leder durchbohren. — Dann beſann er ſich, ſchüttelte mißmuthig die grauen Locken und ſagte:
„Wir Spartaner lernen andere Künſte, als Leſen und Schreiben. Wenn Du kannſt, ſo lies mir vor, was Pythia ſagt.“
Der Delphier überflog die Schrift und erwiederte: „Freue Dich! Loxias 38) verheißt Dir eine glückliche Heim- kehr; höre, was Dir die Prieſterin verkündet:
„Wenn einſt die reiſige Schaar von ſchneeigen Bergen herabſteigt Zu den Gefilden des Stroms, welcher die Ebne benetzt, Führt Dich der zaudernde Kahn herab zu jenem Gefilde, Welches dem irrenden Fuß heimiſchen Frieden gewährt; Wenn einſt die reiſige Schaar von ſchneeigen Bergen herabſteigt, Schenkt Dir die richtende Fünf, was ſie Dir lange verſagt!“
Geſpannten Ohres lauſchte der Spartaner dieſen Worten. Zum zweiten Male ließ er ſich den Spruch des Orakels vorleſen, dann wiederholte er denſelben aus dem Gedächtniſſe, dankte Phryxos, und ſteckte das Röllchen zu ſich.
Der Delphier miſchte ſich in das allgemeine Geſpräch; der Spartaner aber murmelte den Spruch des Orakels unaufhörlich vor ſich hin, um ihn ja nicht zu vergeſſen, und bemühte ſich die räthſelhaften Worte zu deuten.
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kleines Röllchen von pergamentartigem Schafleder hervor,
auf dem mehrere Zeilen geſchrieben waren.
Die Hände des rieſenſtarken, tapferen Spartaners
zitterten, als er nach dem Röllchen griff. Er ſtarrte die
Schriftzüge an, als wolle er mit ſeinen Blicken das Leder
durchbohren. — Dann beſann er ſich, ſchüttelte mißmuthig
die grauen Locken und ſagte:
„Wir Spartaner lernen andere Künſte, als Leſen
und Schreiben. Wenn Du kannſt, ſo lies mir vor, was
Pythia ſagt.“
Der Delphier überflog die Schrift und erwiederte:
„Freue Dich! Loxias 38) verheißt Dir eine glückliche Heim-
kehr; höre, was Dir die Prieſterin verkündet:
„Wenn einſt die reiſige Schaar von ſchneeigen Bergen herabſteigt
Zu den Gefilden des Stroms, welcher die Ebne benetzt,
Führt Dich der zaudernde Kahn herab zu jenem Gefilde,
Welches dem irrenden Fuß heimiſchen Frieden gewährt;
Wenn einſt die reiſige Schaar von ſchneeigen Bergen herabſteigt,
Schenkt Dir die richtende Fünf, was ſie Dir lange verſagt!“
Geſpannten Ohres lauſchte der Spartaner dieſen
Worten. Zum zweiten Male ließ er ſich den Spruch des
Orakels vorleſen, dann wiederholte er denſelben aus dem
Gedächtniſſe, dankte Phryxos, und ſteckte das Röllchen zu ſich.
Der Delphier miſchte ſich in das allgemeine Geſpräch;
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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 1. Stuttgart, 1864, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter01_1864/36>, abgerufen am 22.07.2024.
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