einige wenige Augenblicke des Tags beschäftiget, allein allem Uebrigen war sie fremd geblieben. Mein Beichtvater war ein heiliger, nicht sehr argwöhnischer Greis. Jch sah ihn zwei oder drei mal jährlich, und da ich mir nicht einbil- dete, daß es ein Vergehen sey, sich zu grämen, so sagte ich ihm von meinem Kummer nichts.
Nach und nach fühlte ich dessen nachtheilige Einwirkung auf meine Gesundheit; allein, son- derbar! meine Verstandeskräfte nahmen zu. Ein Weiser des Orients sagte: "Wer nicht ge- litten hat, was weiß er?"
Jch sah ein, daß ich vor meinem Unglücke nichts gewußt hatte. Die Eindrücke wurden in mir zum Gefühle; ich urtheilte nicht, aber ich liebte. Reden und Handlungen, wie Personen,
einige wenige Augenblicke des Tags beſchäftiget, allein allem Uebrigen war ſie fremd geblieben. Mein Beichtvater war ein heiliger, nicht ſehr argwöhniſcher Greis. Jch ſah ihn zwei oder drei mal jährlich, und da ich mir nicht einbil- dete, daß es ein Vergehen ſey, ſich zu grämen, ſo ſagte ich ihm von meinem Kummer nichts.
Nach und nach fühlte ich deſſen nachtheilige Einwirkung auf meine Geſundheit; allein, ſon- derbar! meine Verſtandeskräfte nahmen zu. Ein Weiſer des Orients ſagte: „Wer nicht ge- litten hat, was weiß er?‟
Jch ſah ein, daß ich vor meinem Unglücke nichts gewußt hatte. Die Eindrücke wurden in mir zum Gefühle; ich urtheilte nicht, aber ich liebte. Reden und Handlungen, wie Perſonen,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0042"n="36"/>
einige wenige Augenblicke des Tags beſchäftiget,<lb/>
allein allem Uebrigen war ſie fremd geblieben.<lb/>
Mein Beichtvater war ein heiliger, nicht ſehr<lb/>
argwöhniſcher Greis. Jch ſah ihn zwei oder<lb/>
drei mal jährlich, und da ich mir nicht einbil-<lb/>
dete, daß es ein Vergehen ſey, ſich zu grämen,<lb/>ſo ſagte ich ihm von meinem Kummer nichts.</p><lb/><p>Nach und nach fühlte ich deſſen nachtheilige<lb/>
Einwirkung auf meine Geſundheit; allein, ſon-<lb/>
derbar! meine Verſtandeskräfte nahmen zu.<lb/>
Ein Weiſer des Orients ſagte: „Wer nicht ge-<lb/>
litten hat, was weiß er?‟</p><lb/><p>Jch ſah ein, daß ich vor meinem Unglücke<lb/>
nichts gewußt hatte. Die Eindrücke wurden in<lb/>
mir zum Gefühle; ich urtheilte nicht, aber ich<lb/>
liebte. Reden und Handlungen, wie Perſonen,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[36/0042]
einige wenige Augenblicke des Tags beſchäftiget,
allein allem Uebrigen war ſie fremd geblieben.
Mein Beichtvater war ein heiliger, nicht ſehr
argwöhniſcher Greis. Jch ſah ihn zwei oder
drei mal jährlich, und da ich mir nicht einbil-
dete, daß es ein Vergehen ſey, ſich zu grämen,
ſo ſagte ich ihm von meinem Kummer nichts.
Nach und nach fühlte ich deſſen nachtheilige
Einwirkung auf meine Geſundheit; allein, ſon-
derbar! meine Verſtandeskräfte nahmen zu.
Ein Weiſer des Orients ſagte: „Wer nicht ge-
litten hat, was weiß er?‟
Jch ſah ein, daß ich vor meinem Unglücke
nichts gewußt hatte. Die Eindrücke wurden in
mir zum Gefühle; ich urtheilte nicht, aber ich
liebte. Reden und Handlungen, wie Perſonen,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Duras, Claire de Durfort de: Urika, die Negerin. Übers. v. [Ehrenfried Stöber]. Frankfurt (Main), 1824, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/duras_urika_1824/42>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.