wenig rationalisirten, wie die Physiologie, einigermaassen auf seine Denkweise wirken lassen. Dieses bescheidene Maass, wie es in der Bildung des deutschen Mediciners, einschliesslich derjenigen des medicinischen Professors, durchschnittlich vertreten ist, kann nun einerseits nicht als eine allzu grosse Zumuthung an den weiblichen Wissenserwerb gelten, und muss doch auch anderer- seits zu einer verhältnissmässig ganz ansehnlichen Geistesbefreiung führen, zumal wenn man die Prüderie bedenkt, die noch immer das der Frauenwelt auferlegte Gesetz ist.
Lassen wir jedoch diese Betrachtungen noch zur Seite, und sehen wir uns zuerst nach dem Felde um, in welchem die medi- cinische Praxis den Frauen unzweifelhaft natürlich und sogar ein Bedürfniss der ganzen weiblichen Gesellschaft ist. Bis jetzt haben, vereinzelt und ganz in der alten Manier, besonders unter- nehmende Frauen, wo es anging, hier und da ärztliche Prüfungen bestanden und sind so mit den Männern in gleicher Concurrenz- reihe und genau mit denselben Ansprüchen auf eine allgemeine, unterschiedslose und ungetheilte Ausübung aufgetreten. Es wäre aber mindestens ebenso wichtig, dass nicht blos die Rolle, weib- licher Arzt zu sein, sondern auch das natürliche Interesse der Frauenwelt, für sich und ihre Töchter, ja überhaupt für ihre Kinder weibliche Aerzte zu haben, energisch in das Spiel käme. Ja sogar die Männer möchten vielleicht diesem Interesse auch ihrerseits einige Beistimmung zollen, insofern es nämlich auch ihnen nicht gleichgültig sein kann, ob das naturgesetzliche Wider- streben des gesunden und unverdorbenen Sinnes verachtet und das Weib gezwungen wird, da in Beziehung auf seine Zustände und Eigenschaften körperlicher und geistiger Art im höchsten Maasse vertraulich zu werden, wo es dies auch nicht im ge- ringsten will oder soll. Diesen Grund mögen sich namentlich diejenigen zu Gemüthe führen, bei denen doch sonst die Rück- sicht auf das Wohlanständige angeblich ein so grosses Gewicht hat. Die materialistische Naturmoral dürfte hier den männlichen Aerzten, die jenes Widerstreben in ihrer gewohnheitsmässig ver- schobenen Denkweise nicht anerkennen, einen argen Streich spielen; denn sie lehrt, dass es, abgesehen von Alter oder Ab- stumpfung, keine vertrauten Annäherungen oder Mittheilungen zwischen den beiden Geschlechtern geben kann, ohne dass gegen- seitige Reizungen nahelägen und mindestens die peinliche Be- mühung nothwendig machten, da die strengste Zurückhaltung zu
wenig rationalisirten, wie die Physiologie, einigermaassen auf seine Denkweise wirken lassen. Dieses bescheidene Maass, wie es in der Bildung des deutschen Mediciners, einschliesslich derjenigen des medicinischen Professors, durchschnittlich vertreten ist, kann nun einerseits nicht als eine allzu grosse Zumuthung an den weiblichen Wissenserwerb gelten, und muss doch auch anderer- seits zu einer verhältnissmässig ganz ansehnlichen Geistesbefreiung führen, zumal wenn man die Prüderie bedenkt, die noch immer das der Frauenwelt auferlegte Gesetz ist.
Lassen wir jedoch diese Betrachtungen noch zur Seite, und sehen wir uns zuerst nach dem Felde um, in welchem die medi- cinische Praxis den Frauen unzweifelhaft natürlich und sogar ein Bedürfniss der ganzen weiblichen Gesellschaft ist. Bis jetzt haben, vereinzelt und ganz in der alten Manier, besonders unter- nehmende Frauen, wo es anging, hier und da ärztliche Prüfungen bestanden und sind so mit den Männern in gleicher Concurrenz- reihe und genau mit denselben Ansprüchen auf eine allgemeine, unterschiedslose und ungetheilte Ausübung aufgetreten. Es wäre aber mindestens ebenso wichtig, dass nicht blos die Rolle, weib- licher Arzt zu sein, sondern auch das natürliche Interesse der Frauenwelt, für sich und ihre Töchter, ja überhaupt für ihre Kinder weibliche Aerzte zu haben, energisch in das Spiel käme. Ja sogar die Männer möchten vielleicht diesem Interesse auch ihrerseits einige Beistimmung zollen, insofern es nämlich auch ihnen nicht gleichgültig sein kann, ob das naturgesetzliche Wider- streben des gesunden und unverdorbenen Sinnes verachtet und das Weib gezwungen wird, da in Beziehung auf seine Zustände und Eigenschaften körperlicher und geistiger Art im höchsten Maasse vertraulich zu werden, wo es dies auch nicht im ge- ringsten will oder soll. Diesen Grund mögen sich namentlich diejenigen zu Gemüthe führen, bei denen doch sonst die Rück- sicht auf das Wohlanständige angeblich ein so grosses Gewicht hat. Die materialistische Naturmoral dürfte hier den männlichen Aerzten, die jenes Widerstreben in ihrer gewohnheitsmässig ver- schobenen Denkweise nicht anerkennen, einen argen Streich spielen; denn sie lehrt, dass es, abgesehen von Alter oder Ab- stumpfung, keine vertrauten Annäherungen oder Mittheilungen zwischen den beiden Geschlechtern geben kann, ohne dass gegen- seitige Reizungen nahelägen und mindestens die peinliche Be- mühung nothwendig machten, da die strengste Zurückhaltung zu
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wenig rationalisirten, wie die Physiologie, einigermaassen auf seine
Denkweise wirken lassen. Dieses bescheidene Maass, wie es in
der Bildung des deutschen Mediciners, einschliesslich derjenigen
des medicinischen Professors, durchschnittlich vertreten ist, kann
nun einerseits nicht als eine allzu grosse Zumuthung an den
weiblichen Wissenserwerb gelten, und muss doch auch anderer-
seits zu einer verhältnissmässig ganz ansehnlichen Geistesbefreiung
führen, zumal wenn man die Prüderie bedenkt, die noch immer
das der Frauenwelt auferlegte Gesetz ist.
Lassen wir jedoch diese Betrachtungen noch zur Seite, und
sehen wir uns zuerst nach dem Felde um, in welchem die medi-
cinische Praxis den Frauen unzweifelhaft natürlich und sogar
ein Bedürfniss der ganzen weiblichen Gesellschaft ist. Bis jetzt
haben, vereinzelt und ganz in der alten Manier, besonders unter-
nehmende Frauen, wo es anging, hier und da ärztliche Prüfungen
bestanden und sind so mit den Männern in gleicher Concurrenz-
reihe und genau mit denselben Ansprüchen auf eine allgemeine,
unterschiedslose und ungetheilte Ausübung aufgetreten. Es wäre
aber mindestens ebenso wichtig, dass nicht blos die Rolle, weib-
licher Arzt zu sein, sondern auch das natürliche Interesse der
Frauenwelt, für sich und ihre Töchter, ja überhaupt für ihre
Kinder weibliche Aerzte zu haben, energisch in das Spiel käme.
Ja sogar die Männer möchten vielleicht diesem Interesse auch
ihrerseits einige Beistimmung zollen, insofern es nämlich auch
ihnen nicht gleichgültig sein kann, ob das naturgesetzliche Wider-
streben des gesunden und unverdorbenen Sinnes verachtet und
das Weib gezwungen wird, da in Beziehung auf seine Zustände
und Eigenschaften körperlicher und geistiger Art im höchsten
Maasse vertraulich zu werden, wo es dies auch nicht im ge-
ringsten will oder soll. Diesen Grund mögen sich namentlich
diejenigen zu Gemüthe führen, bei denen doch sonst die Rück-
sicht auf das Wohlanständige angeblich ein so grosses Gewicht
hat. Die materialistische Naturmoral dürfte hier den männlichen
Aerzten, die jenes Widerstreben in ihrer gewohnheitsmässig ver-
schobenen Denkweise nicht anerkennen, einen argen Streich
spielen; denn sie lehrt, dass es, abgesehen von Alter oder Ab-
stumpfung, keine vertrauten Annäherungen oder Mittheilungen
zwischen den beiden Geschlechtern geben kann, ohne dass gegen-
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Projekt: Texte zur Frauenfrage um 1900 Gießen/Kassel: Bereitstellung der Texttranskription.
(2013-06-13T16:46:57Z)
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Thomas Gloning, Melanie Henß, Hannah Glaum: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2013-06-13T16:46:57Z)
Internet Archive: Bereitstellung der Bilddigitalisate.
(2013-06-13T16:46:57Z)
Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/duehring_berufsbildung_1885/21>, abgerufen am 02.03.2025.
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