gabe, und da wir an jedem Orte nicht nur verschiedene Tage für dieselben Vegetationsphasen beobachten, sondern auch finden, dass sowohl die einleitenden als ausführen- den Temperaturen sich an beiden Orten ungleich ver- halten, so versteht es sich von selbst, dass die Natur- forschung sich nicht mit der einfachen Nachweisung einer bestehenden Verschiedenheit begnügen darf, sondern die- selbe in die dabei zu beobachtenden einzelnen Momente auflöst und gewisse Regeln abzuleiten sucht, welche innerhalb der Beobachtungsschwierigkeiten mit der theo- retischen Anschauung sich decken.
Auf diesem Gebiete stehen noch immer unübertroffen zwei Abhandlungen von Linsser (Die periodischen Er- scheinungen des Pflanzenlebens, Memoires de l' Academie d. sc. St. Petersb., VII. Ser., XI. Bd., Nr. 7; XIII. Bd., Nr. 8, 1867 u. 1869) da, welche theoretische, nur für die nördlich-gemässigten Klimate gültige Regeln gestützt auf eine schwerwiegende Zahl phänologischer Beobach- tungen abzuleiten suchen; kein Experiment ist dabei über den Einfluss dieses oder jenes Agens gemacht, wir haben es also nur mit phänologisch-klimatologischen (thermo- metrischen) Vergleichungen zu thun. Diese Korrelationen drückt Linsser folgendermassen aus: "Die an zwei ver- schiedenen Orten den gleichen Vegetationsphasen zuge- hörigen Summen von Temperaturen über 0° sind den Summen aller positiven Temperaturen beider Orte pro- portional."
Beispiel von Brüssel und St. Petersburg. Es wer- den 6 Gruppen von Gewächsen gebildet, deren erste die frühesten Frühlingsblüten (Anemone, Haselstrauch) und alle folgenden die immer später blühenden Pflanzen enthält, die sechste z. B. die Winterlinde und Thymian. Die Blüten- und Belaubungszeiten dieser Gruppen sind zu einem gemeinsamen Mittelwert verrechnet, um statt vieler Einzelzahlen wenige sichere zu haben. Gleichzeitig sind für die Stationen Temperatursummen aus allen positiven Tem- peraturen gebildet, für Brüssel z. B. vom tiefsten Punkte der Tem- peraturkurve am 16. Januar an, für Petersburg von dem Eintritt der Temperatur in den Nullpunkt am 8. April an. Der mittlere Tag der Gruppe (Blütezeit) ist für Brüssel als Datum ausgedrückt, für Petersburg in der durch + n-Tage angegebenen Verspätung.
Linssers phänologische Regeln.
gabe, und da wir an jedem Orte nicht nur verschiedene Tage für dieselben Vegetationsphasen beobachten, sondern auch finden, dass sowohl die einleitenden als ausführen- den Temperaturen sich an beiden Orten ungleich ver- halten, so versteht es sich von selbst, dass die Natur- forschung sich nicht mit der einfachen Nachweisung einer bestehenden Verschiedenheit begnügen darf, sondern die- selbe in die dabei zu beobachtenden einzelnen Momente auflöst und gewisse Regeln abzuleiten sucht, welche innerhalb der Beobachtungsschwierigkeiten mit der theo- retischen Anschauung sich decken.
Auf diesem Gebiete stehen noch immer unübertroffen zwei Abhandlungen von Linsser (Die periodischen Er- scheinungen des Pflanzenlebens, Mémoires de l’ Académie d. sc. St. Pétersb., VII. Ser., XI. Bd., Nr. 7; XIII. Bd., Nr. 8, 1867 u. 1869) da, welche theoretische, nur für die nördlich-gemässigten Klimate gültige Regeln gestützt auf eine schwerwiegende Zahl phänologischer Beobach- tungen abzuleiten suchen; kein Experiment ist dabei über den Einfluss dieses oder jenes Agens gemacht, wir haben es also nur mit phänologisch-klimatologischen (thermo- metrischen) Vergleichungen zu thun. Diese Korrelationen drückt Linsser folgendermassen aus: „Die an zwei ver- schiedenen Orten den gleichen Vegetationsphasen zuge- hörigen Summen von Temperaturen über 0° sind den Summen aller positiven Temperaturen beider Orte pro- portional.“
Beispiel von Brüssel und St. Petersburg. Es wer- den 6 Gruppen von Gewächsen gebildet, deren erste die frühesten Frühlingsblüten (Anemone, Haselstrauch) und alle folgenden die immer später blühenden Pflanzen enthält, die sechste z. B. die Winterlinde und Thymian. Die Blüten- und Belaubungszeiten dieser Gruppen sind zu einem gemeinsamen Mittelwert verrechnet, um statt vieler Einzelzahlen wenige sichere zu haben. Gleichzeitig sind für die Stationen Temperatursummen aus allen positiven Tem- peraturen gebildet, für Brüssel z. B. vom tiefsten Punkte der Tem- peraturkurve am 16. Januar an, für Petersburg von dem Eintritt der Temperatur in den Nullpunkt am 8. April an. Der mittlere Tag der Gruppe (Blütezeit) ist für Brüssel als Datum ausgedrückt, für Petersburg in der durch + n-Tage angegebenen Verspätung.
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Linssers phänologische Regeln.
gabe, und da wir an jedem Orte nicht nur verschiedene
Tage für dieselben Vegetationsphasen beobachten, sondern
auch finden, dass sowohl die einleitenden als ausführen-
den Temperaturen sich an beiden Orten ungleich ver-
halten, so versteht es sich von selbst, dass die Natur-
forschung sich nicht mit der einfachen Nachweisung einer
bestehenden Verschiedenheit begnügen darf, sondern die-
selbe in die dabei zu beobachtenden einzelnen Momente
auflöst und gewisse Regeln abzuleiten sucht, welche
innerhalb der Beobachtungsschwierigkeiten mit der theo-
retischen Anschauung sich decken.
Auf diesem Gebiete stehen noch immer unübertroffen
zwei Abhandlungen von Linsser (Die periodischen Er-
scheinungen des Pflanzenlebens, Mémoires de l’ Académie
d. sc. St. Pétersb., VII. Ser., XI. Bd., Nr. 7; XIII. Bd.,
Nr. 8, 1867 u. 1869) da, welche theoretische, nur für
die nördlich-gemässigten Klimate gültige Regeln gestützt
auf eine schwerwiegende Zahl phänologischer Beobach-
tungen abzuleiten suchen; kein Experiment ist dabei über
den Einfluss dieses oder jenes Agens gemacht, wir haben
es also nur mit phänologisch-klimatologischen (thermo-
metrischen) Vergleichungen zu thun. Diese Korrelationen
drückt Linsser folgendermassen aus: „Die an zwei ver-
schiedenen Orten den gleichen Vegetationsphasen zuge-
hörigen Summen von Temperaturen über 0° sind den
Summen aller positiven Temperaturen beider Orte pro-
portional.“
Beispiel von Brüssel und St. Petersburg. Es wer-
den 6 Gruppen von Gewächsen gebildet, deren erste die frühesten
Frühlingsblüten (Anemone, Haselstrauch) und alle folgenden die
immer später blühenden Pflanzen enthält, die sechste z. B. die
Winterlinde und Thymian. Die Blüten- und Belaubungszeiten
dieser Gruppen sind zu einem gemeinsamen Mittelwert verrechnet,
um statt vieler Einzelzahlen wenige sichere zu haben. Gleichzeitig
sind für die Stationen Temperatursummen aus allen positiven Tem-
peraturen gebildet, für Brüssel z. B. vom tiefsten Punkte der Tem-
peraturkurve am 16. Januar an, für Petersburg von dem Eintritt
der Temperatur in den Nullpunkt am 8. April an. Der mittlere
Tag der Gruppe (Blütezeit) ist für Brüssel als Datum ausgedrückt,
für Petersburg in der durch + n-Tage angegebenen Verspätung.
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Drude, Oscar: Handbuch der Pflanzengeographie. Stuttgart, 1890, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/drude_pflanzengeographie_1890/67>, abgerufen am 24.11.2024.
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