Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.gen Theil das politische Urtheil in Deutschland drei, vier Jahrzehnte Und mehr noch: indem solche rhetorische Kunst die Wucht unge- Auch wir in Deutschland rühmen uns bereits einer historischen Li- gen Theil das politische Urtheil in Deutschland drei, vier Jahrzehnte Und mehr noch: indem solche rhetorische Kunst die Wucht unge- Auch wir in Deutschland rühmen uns bereits einer historischen Li- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0087" n="78"/> gen Theil das politische Urtheil in Deutschland drei, vier Jahrzehnte<lb/> lang von der fremden Historiographie gebildet und geleitet, von ihrer<lb/> rhetorischen Ueberlegenheit beherrscht wurde.</p><lb/> <p>Und mehr noch: indem solche rhetorische Kunst die Wucht unge-<lb/> heurer Ereignisse, die schwierigen Verwickelungen, in denen sich grosse<lb/> Ereignisse zu vollziehen oder doch vorzubereiten pflegen, die Greuel<lb/> entfesselter Leidenschaften oder fanatischer Unterdrückungen zu einem<lb/> künstlerisch wohl abgetonten Bilde, zu einer spannenden und dramatisch<lb/> wirkenden Lectüre verwandelt, ist sie gewiss, um so fasslicher und über-<lb/> zeugender zu sein. Sie hat das Mittel gefunden, auch den minder kun-<lb/> digen Leser mit Dingen vertraut zu machen, welche in ihrem wirklichen<lb/> Verlauf von dem Mitlebenden, der sie auch nur einigermaassen verstehen<lb/> wollte, tausend Vorkenntnisse, viele Erfahrung, ein ruhiges und gesam-<lb/> meltes Urtheil forderten; das Alles weiss die historische Kunst auf die<lb/> erfreulichste Weise zu ersetzen, also dass der aufmerksame Leser, wenn<lb/> er seinen Thiers oder Macaulay zu Ende gelesen, sich um die gros-<lb/> sen Erfahrungen dieser Revolutionen, dieser Partheikämpfe, dieser Ver-<lb/> fassungsentwickelungen reicher glauben darf; — um Erfahrungen freilich,<lb/> denen das Beste von dem fehlt, was die Erfahrungen fruchtbar macht,<lb/> der Ernst der schwer arbeitenden Wirklichkeiten, die Verantwortlichkeit<lb/> des unausweichlichen Entschlusses, die Opfer, die auch der Sieg fordert,<lb/> das Misslingen, das auch die gerechte Sache unter die Füsse wirft. Die<lb/> Kunst des Historikers überhebt den Leser, an solche Nebendinge zu den-<lb/> ken; sie erfüllt seine Phantasie mit Vorstellungen und Anschauungen,<lb/> die von der breiten, harten, zäh langsamen Wirklichkeit nur die glän-<lb/> zend beleuchteten Spitzen zusammenfassen; sie überzeugt ihn, dass diese<lb/> die Summe der Einzelheiten und das Wahre der Wirklichkeiten sind.<lb/> Sie hilft an ihrem Theil an jenem unermesslichen Einfluss arbeiten, den<lb/> die Meinung der Menschen übt, indem sie an ihren Ideen die Wirk-<lb/> lichkeit messen und von dieser fordern, dass sie sich nach jenen ge-<lb/> stalte oder umgestalte, — um so ungeduldiger fordern, je leichter sie<lb/> sich solche Umkehr der Dinge zu denken gewöhnt sind.</p><lb/> <p>Auch wir in Deutschland rühmen uns bereits einer historischen Li-<lb/> teratur, die dem populären Bedürfniss entspricht; auch bei uns ist die<lb/> Einsicht gewonnen oder das Zugeständniss gemacht, dass „die Historie<lb/> Kunst und Wissenschaft zugleich sei“. Nur dass damit die methodische<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [78/0087]
gen Theil das politische Urtheil in Deutschland drei, vier Jahrzehnte
lang von der fremden Historiographie gebildet und geleitet, von ihrer
rhetorischen Ueberlegenheit beherrscht wurde.
Und mehr noch: indem solche rhetorische Kunst die Wucht unge-
heurer Ereignisse, die schwierigen Verwickelungen, in denen sich grosse
Ereignisse zu vollziehen oder doch vorzubereiten pflegen, die Greuel
entfesselter Leidenschaften oder fanatischer Unterdrückungen zu einem
künstlerisch wohl abgetonten Bilde, zu einer spannenden und dramatisch
wirkenden Lectüre verwandelt, ist sie gewiss, um so fasslicher und über-
zeugender zu sein. Sie hat das Mittel gefunden, auch den minder kun-
digen Leser mit Dingen vertraut zu machen, welche in ihrem wirklichen
Verlauf von dem Mitlebenden, der sie auch nur einigermaassen verstehen
wollte, tausend Vorkenntnisse, viele Erfahrung, ein ruhiges und gesam-
meltes Urtheil forderten; das Alles weiss die historische Kunst auf die
erfreulichste Weise zu ersetzen, also dass der aufmerksame Leser, wenn
er seinen Thiers oder Macaulay zu Ende gelesen, sich um die gros-
sen Erfahrungen dieser Revolutionen, dieser Partheikämpfe, dieser Ver-
fassungsentwickelungen reicher glauben darf; — um Erfahrungen freilich,
denen das Beste von dem fehlt, was die Erfahrungen fruchtbar macht,
der Ernst der schwer arbeitenden Wirklichkeiten, die Verantwortlichkeit
des unausweichlichen Entschlusses, die Opfer, die auch der Sieg fordert,
das Misslingen, das auch die gerechte Sache unter die Füsse wirft. Die
Kunst des Historikers überhebt den Leser, an solche Nebendinge zu den-
ken; sie erfüllt seine Phantasie mit Vorstellungen und Anschauungen,
die von der breiten, harten, zäh langsamen Wirklichkeit nur die glän-
zend beleuchteten Spitzen zusammenfassen; sie überzeugt ihn, dass diese
die Summe der Einzelheiten und das Wahre der Wirklichkeiten sind.
Sie hilft an ihrem Theil an jenem unermesslichen Einfluss arbeiten, den
die Meinung der Menschen übt, indem sie an ihren Ideen die Wirk-
lichkeit messen und von dieser fordern, dass sie sich nach jenen ge-
stalte oder umgestalte, — um so ungeduldiger fordern, je leichter sie
sich solche Umkehr der Dinge zu denken gewöhnt sind.
Auch wir in Deutschland rühmen uns bereits einer historischen Li-
teratur, die dem populären Bedürfniss entspricht; auch bei uns ist die
Einsicht gewonnen oder das Zugeständniss gemacht, dass „die Historie
Kunst und Wissenschaft zugleich sei“. Nur dass damit die methodische
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