Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

bedeutende Wendung bezeichnen wird. Denn die wachsende Entfrem-
dung zwischen den exacten und speculativen Disciplinen, den täglich
weiter klaffenden Zwiespalt zwischen der materialistischen nnd supra-
naturalistischen Weltanschauung wird Niemand für normal und wahr
halten. Diese Gegensätze fordern eine Ausgleichung, und jene Auf-
gabe scheint die Stelle zu sein, in der sie erarbeitet werden muss.
Denn die ethische Welt, die Welt der Geschichte, die ihr Problem
ist, nimmt an beiden Sphären Theil; sie zeigt in jedem Act mensch-
lichen Seins und Thuns, dass jener Gegensatz kein absoluter ist. Es
ist das eigenthümliche Charisma der so glücklich unvollkommenen
Menschennatur, dass sie, geistig und leiblich zugleich, sich ethisch
verhalten muss; es giebt nichts Menschliches, das nicht in diesem
Zwiespalt stünde, in diesem Doppelleben lebte; in jedem Augenblick
versöhnt sich jener Gegensatz um sich wieder zu erneuen, erneut er
sich, um sich wieder zu versöhnen. Die ethische, die geschichtliche
Welt verstehen wollen heisst vor Allem erkennen, dass sie weder nur
doketisch, noch nur Stoffwechsel ist. Auch wissenschaftlich jene falsche
Alternative überwinden, den Dualismus jener Methoden, jener Welt-
anschauungen, von denen jede die andere nur beherrschen oder negiren
will, in derjenigen Methode versöhnen, die der ethischen, der ge-
schichtlichen Welt entsprechend ist, sie zu der Weltanschauung zu
entwickeln, die in der Wahrheit des menschlichen Seins, in dem Kosmos
der sittlichen Mächte ihre Basis hat -- das, so dünkt mich, ist der
Kern der Aufgabe, um deren Lösung es sich handelt.


bedeutende Wendung bezeichnen wird. Denn die wachsende Entfrem-
dung zwischen den exacten und speculativen Disciplinen, den täglich
weiter klaffenden Zwiespalt zwischen der materialistischen nnd supra-
naturalistischen Weltanschauung wird Niemand für normal und wahr
halten. Diese Gegensätze fordern eine Ausgleichung, und jene Auf-
gabe scheint die Stelle zu sein, in der sie erarbeitet werden muss.
Denn die ethische Welt, die Welt der Geschichte, die ihr Problem
ist, nimmt an beiden Sphären Theil; sie zeigt in jedem Act mensch-
lichen Seins und Thuns, dass jener Gegensatz kein absoluter ist. Es
ist das eigenthümliche Charisma der so glücklich unvollkommenen
Menschennatur, dass sie, geistig und leiblich zugleich, sich ethisch
verhalten muss; es giebt nichts Menschliches, das nicht in diesem
Zwiespalt stünde, in diesem Doppelleben lebte; in jedem Augenblick
versöhnt sich jener Gegensatz um sich wieder zu erneuen, erneut er
sich, um sich wieder zu versöhnen. Die ethische, die geschichtliche
Welt verstehen wollen heisst vor Allem erkennen, dass sie weder nur
doketisch, noch nur Stoffwechsel ist. Auch wissenschaftlich jene falsche
Alternative überwinden, den Dualismus jener Methoden, jener Welt-
anschauungen, von denen jede die andere nur beherrschen oder negiren
will, in derjenigen Methode versöhnen, die der ethischen, der ge-
schichtlichen Welt entsprechend ist, sie zu der Weltanschauung zu
entwickeln, die in der Wahrheit des menschlichen Seins, in dem Kosmos
der sittlichen Mächte ihre Basis hat — das, so dünkt mich, ist der
Kern der Aufgabe, um deren Lösung es sich handelt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0071" n="62"/>
bedeutende Wendung bezeichnen wird. Denn die wachsende Entfrem-<lb/>
dung zwischen den exacten und speculativen Disciplinen, den täglich<lb/>
weiter klaffenden Zwiespalt zwischen der materialistischen nnd supra-<lb/>
naturalistischen Weltanschauung wird Niemand für normal und wahr<lb/>
halten. Diese Gegensätze fordern eine Ausgleichung, und jene Auf-<lb/>
gabe scheint die Stelle zu sein, in der sie erarbeitet werden muss.<lb/>
Denn die ethische Welt, die Welt der Geschichte, die ihr Problem<lb/>
ist, nimmt an beiden Sphären Theil; sie zeigt in jedem Act mensch-<lb/>
lichen Seins und Thuns, dass jener Gegensatz kein absoluter ist. Es<lb/>
ist das eigenthümliche Charisma der so glücklich unvollkommenen<lb/>
Menschennatur, dass sie, geistig und leiblich zugleich, sich ethisch<lb/>
verhalten muss; es giebt nichts Menschliches, das nicht in diesem<lb/>
Zwiespalt stünde, in diesem Doppelleben lebte; in jedem Augenblick<lb/>
versöhnt sich jener Gegensatz um sich wieder zu erneuen, erneut er<lb/>
sich, um sich wieder zu versöhnen. Die ethische, die geschichtliche<lb/>
Welt verstehen wollen heisst vor Allem erkennen, dass sie weder nur<lb/>
doketisch, noch nur Stoffwechsel ist. Auch wissenschaftlich jene falsche<lb/>
Alternative überwinden, den Dualismus jener Methoden, jener Welt-<lb/>
anschauungen, von denen jede die andere nur beherrschen oder negiren<lb/>
will, in derjenigen Methode versöhnen, die der ethischen, der ge-<lb/>
schichtlichen Welt entsprechend ist, sie zu der Weltanschauung zu<lb/>
entwickeln, die in der Wahrheit des menschlichen Seins, in dem Kosmos<lb/>
der sittlichen Mächte ihre Basis hat &#x2014; das, so dünkt mich, ist der<lb/>
Kern der Aufgabe, um deren Lösung es sich handelt.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0071] bedeutende Wendung bezeichnen wird. Denn die wachsende Entfrem- dung zwischen den exacten und speculativen Disciplinen, den täglich weiter klaffenden Zwiespalt zwischen der materialistischen nnd supra- naturalistischen Weltanschauung wird Niemand für normal und wahr halten. Diese Gegensätze fordern eine Ausgleichung, und jene Auf- gabe scheint die Stelle zu sein, in der sie erarbeitet werden muss. Denn die ethische Welt, die Welt der Geschichte, die ihr Problem ist, nimmt an beiden Sphären Theil; sie zeigt in jedem Act mensch- lichen Seins und Thuns, dass jener Gegensatz kein absoluter ist. Es ist das eigenthümliche Charisma der so glücklich unvollkommenen Menschennatur, dass sie, geistig und leiblich zugleich, sich ethisch verhalten muss; es giebt nichts Menschliches, das nicht in diesem Zwiespalt stünde, in diesem Doppelleben lebte; in jedem Augenblick versöhnt sich jener Gegensatz um sich wieder zu erneuen, erneut er sich, um sich wieder zu versöhnen. Die ethische, die geschichtliche Welt verstehen wollen heisst vor Allem erkennen, dass sie weder nur doketisch, noch nur Stoffwechsel ist. Auch wissenschaftlich jene falsche Alternative überwinden, den Dualismus jener Methoden, jener Welt- anschauungen, von denen jede die andere nur beherrschen oder negiren will, in derjenigen Methode versöhnen, die der ethischen, der ge- schichtlichen Welt entsprechend ist, sie zu der Weltanschauung zu entwickeln, die in der Wahrheit des menschlichen Seins, in dem Kosmos der sittlichen Mächte ihre Basis hat — das, so dünkt mich, ist der Kern der Aufgabe, um deren Lösung es sich handelt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/71
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/71>, abgerufen am 22.11.2024.