Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Leben der Menschheit zu bezeichnen, so ist das zwar sehr dankens-
werth, aber weder in der Folgereihe seiner Erörterungen begründet,
noch folgerichtig durchgeführt. Ist da ein Fortschreiten, so muss sich
in der beobachteten Bewegung die Richtung zu dem hin, um des
Willen sie ist, erkennbar machen. Die naturwissenschaftliche Betrach-
tungsweise ist dem Gesichtspunkte nach, unter dem sie die Erschei-
nungen fasst, in anderer Lage. Sie sieht in den Veränderungen, die
sie beobachtet, bis zu den Aequivalenten der Kräfte hinauf nur das
im Wechsel Gleiche und Bleibende, und die vitalen Erscheinungen
interessiren sie nur, in so weit sie entweder in Perioden oder morpho-
logisch sich wiederholen; in dem individuellen Sein sieht und sucht
sie nur entweder den Gattungsbegriff oder den Vermittler des Stoff-
wechsels. Indem sie den Begriff des Fortschrittes -- Darwin's Ent-
wickelungstheorie ist der stärkste Beweis dafür -- ihrer Methode nach
von sich ausschiesst, -- den Fortschritt nicht in ihrer Erkenntniss,
sondern als Moment in dem, was sie erkennen will, -- so hat sie
weder eine Stelle noch einen Ausdruck für den Zweckbegriff, sie stellt
ihn ausser Rechnung, indem sie ihn theils zur Nützlichkeit degradirt
und die alte Lessing'sche Frage offen lässt, was denn der Nutzen des
Nutzens sei, theils unter Formen wie Ewigkeit der Materie, Entwicke-
lung u. s. w. anderen Methoden als Problem überreicht. Wenn Buckle
für die geschichtliche Welt den Begriff des Fortschrittes voranstellt,
so kommt er zu einem Antilogismus sehr bezeichnender Art. Mochte
er bekennen, dass er auf dem Wege der geschichtlichen Forschung
das primum mobile nicht gefunden habe, mochte er erkennen, dass es
dem Wesen der empirischen Methoden nach auf diesem Wege nicht
zu erreichen, mit der Sprache der Wissenschaft, mit ihren Begriffen,
ihrer Art zu denken, nicht adäquat auszudrücken sei; -- aber ist da-
mit der Schluss gerechtfertigt, dass es überhaupt nicht sei, dass es
nur in unserm Irrthum eine Stelle habe? Giebt es nicht noch andere
und andere Erkenntnissformen, andere Methoden, die vielleicht eben
das, was die naturwissenschaftliche nicht will und in richtiger Conse-
quenz ihres Gesichtspunktes nicht will, die historische nicht kann oder
in nur unzulänglicher Weise kann, nach ihrer Natur können und wollen?
Gäbe es etwa darum kein ästhetisches Urtheil, weil es auf juristischem
Wege nicht zu finden ist? darum keinen Rechtssatz, weil man einen

Leben der Menschheit zu bezeichnen, so ist das zwar sehr dankens-
werth, aber weder in der Folgereihe seiner Erörterungen begründet,
noch folgerichtig durchgeführt. Ist da ein Fortschreiten, so muss sich
in der beobachteten Bewegung die Richtung zu dem hin, um des
Willen sie ist, erkennbar machen. Die naturwissenschaftliche Betrach-
tungsweise ist dem Gesichtspunkte nach, unter dem sie die Erschei-
nungen fasst, in anderer Lage. Sie sieht in den Veränderungen, die
sie beobachtet, bis zu den Aequivalenten der Kräfte hinauf nur das
im Wechsel Gleiche und Bleibende, und die vitalen Erscheinungen
interessiren sie nur, in so weit sie entweder in Perioden oder morpho-
logisch sich wiederholen; in dem individuellen Sein sieht und sucht
sie nur entweder den Gattungsbegriff oder den Vermittler des Stoff-
wechsels. Indem sie den Begriff des Fortschrittes — Darwin’s Ent-
wickelungstheorie ist der stärkste Beweis dafür — ihrer Methode nach
von sich ausschiesst, — den Fortschritt nicht in ihrer Erkenntniss,
sondern als Moment in dem, was sie erkennen will, — so hat sie
weder eine Stelle noch einen Ausdruck für den Zweckbegriff, sie stellt
ihn ausser Rechnung, indem sie ihn theils zur Nützlichkeit degradirt
und die alte Lessing’sche Frage offen lässt, was denn der Nutzen des
Nutzens sei, theils unter Formen wie Ewigkeit der Materie, Entwicke-
lung u. s. w. anderen Methoden als Problem überreicht. Wenn Buckle
für die geschichtliche Welt den Begriff des Fortschrittes voranstellt,
so kommt er zu einem Antilogismus sehr bezeichnender Art. Mochte
er bekennen, dass er auf dem Wege der geschichtlichen Forschung
das primum mobile nicht gefunden habe, mochte er erkennen, dass es
dem Wesen der empirischen Methoden nach auf diesem Wege nicht
zu erreichen, mit der Sprache der Wissenschaft, mit ihren Begriffen,
ihrer Art zu denken, nicht adäquat auszudrücken sei; — aber ist da-
mit der Schluss gerechtfertigt, dass es überhaupt nicht sei, dass es
nur in unserm Irrthum eine Stelle habe? Giebt es nicht noch andere
und andere Erkenntnissformen, andere Methoden, die vielleicht eben
das, was die naturwissenschaftliche nicht will und in richtiger Conse-
quenz ihres Gesichtspunktes nicht will, die historische nicht kann oder
in nur unzulänglicher Weise kann, nach ihrer Natur können und wollen?
Gäbe es etwa darum kein ästhetisches Urtheil, weil es auf juristischem
Wege nicht zu finden ist? darum keinen Rechtssatz, weil man einen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0069" n="60"/>
Leben der Menschheit zu bezeichnen, so ist das zwar sehr dankens-<lb/>
werth, aber weder in der Folgereihe seiner Erörterungen begründet,<lb/>
noch folgerichtig durchgeführt. Ist da ein Fortschreiten, so muss sich<lb/>
in der beobachteten Bewegung die Richtung zu dem hin, um des<lb/>
Willen sie ist, erkennbar machen. Die naturwissenschaftliche Betrach-<lb/>
tungsweise ist dem Gesichtspunkte nach, unter dem sie die Erschei-<lb/>
nungen fasst, in anderer Lage. Sie sieht in den Veränderungen, die<lb/>
sie beobachtet, bis zu den Aequivalenten der Kräfte hinauf nur das<lb/>
im Wechsel Gleiche und Bleibende, und die vitalen Erscheinungen<lb/>
interessiren sie nur, in so weit sie entweder in Perioden oder morpho-<lb/>
logisch sich wiederholen; in dem individuellen Sein sieht und sucht<lb/>
sie nur entweder den Gattungsbegriff oder den Vermittler des Stoff-<lb/>
wechsels. Indem sie den Begriff des Fortschrittes &#x2014; Darwin&#x2019;s Ent-<lb/>
wickelungstheorie ist der stärkste Beweis dafür &#x2014; ihrer Methode nach<lb/>
von sich ausschiesst, &#x2014; den Fortschritt nicht in ihrer Erkenntniss,<lb/>
sondern als Moment in dem, was sie erkennen will, &#x2014; so hat sie<lb/>
weder eine Stelle noch einen Ausdruck für den Zweckbegriff, sie stellt<lb/>
ihn ausser Rechnung, indem sie ihn theils zur Nützlichkeit degradirt<lb/>
und die alte Lessing&#x2019;sche Frage offen lässt, was denn der Nutzen des<lb/>
Nutzens sei, theils unter Formen wie Ewigkeit der Materie, Entwicke-<lb/>
lung u. s. w. anderen Methoden als Problem überreicht. Wenn Buckle<lb/>
für die geschichtliche Welt den Begriff des Fortschrittes voranstellt,<lb/>
so kommt er zu einem Antilogismus sehr bezeichnender Art. Mochte<lb/>
er bekennen, dass er auf dem Wege der geschichtlichen Forschung<lb/>
das primum mobile nicht gefunden habe, mochte er erkennen, dass es<lb/>
dem Wesen der empirischen Methoden nach auf diesem Wege nicht<lb/>
zu erreichen, mit der Sprache der Wissenschaft, mit ihren Begriffen,<lb/>
ihrer Art zu denken, nicht adäquat auszudrücken sei; &#x2014; aber ist da-<lb/>
mit der Schluss gerechtfertigt, dass es überhaupt nicht sei, dass es<lb/>
nur in unserm Irrthum eine Stelle habe? Giebt es nicht noch andere<lb/>
und andere Erkenntnissformen, andere Methoden, die vielleicht eben<lb/>
das, was die naturwissenschaftliche nicht will und in richtiger Conse-<lb/>
quenz ihres Gesichtspunktes nicht will, die historische nicht kann oder<lb/>
in nur unzulänglicher Weise kann, nach ihrer Natur können und wollen?<lb/>
Gäbe es etwa darum kein ästhetisches Urtheil, weil es auf juristischem<lb/>
Wege nicht zu finden ist? darum keinen Rechtssatz, weil man einen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0069] Leben der Menschheit zu bezeichnen, so ist das zwar sehr dankens- werth, aber weder in der Folgereihe seiner Erörterungen begründet, noch folgerichtig durchgeführt. Ist da ein Fortschreiten, so muss sich in der beobachteten Bewegung die Richtung zu dem hin, um des Willen sie ist, erkennbar machen. Die naturwissenschaftliche Betrach- tungsweise ist dem Gesichtspunkte nach, unter dem sie die Erschei- nungen fasst, in anderer Lage. Sie sieht in den Veränderungen, die sie beobachtet, bis zu den Aequivalenten der Kräfte hinauf nur das im Wechsel Gleiche und Bleibende, und die vitalen Erscheinungen interessiren sie nur, in so weit sie entweder in Perioden oder morpho- logisch sich wiederholen; in dem individuellen Sein sieht und sucht sie nur entweder den Gattungsbegriff oder den Vermittler des Stoff- wechsels. Indem sie den Begriff des Fortschrittes — Darwin’s Ent- wickelungstheorie ist der stärkste Beweis dafür — ihrer Methode nach von sich ausschiesst, — den Fortschritt nicht in ihrer Erkenntniss, sondern als Moment in dem, was sie erkennen will, — so hat sie weder eine Stelle noch einen Ausdruck für den Zweckbegriff, sie stellt ihn ausser Rechnung, indem sie ihn theils zur Nützlichkeit degradirt und die alte Lessing’sche Frage offen lässt, was denn der Nutzen des Nutzens sei, theils unter Formen wie Ewigkeit der Materie, Entwicke- lung u. s. w. anderen Methoden als Problem überreicht. Wenn Buckle für die geschichtliche Welt den Begriff des Fortschrittes voranstellt, so kommt er zu einem Antilogismus sehr bezeichnender Art. Mochte er bekennen, dass er auf dem Wege der geschichtlichen Forschung das primum mobile nicht gefunden habe, mochte er erkennen, dass es dem Wesen der empirischen Methoden nach auf diesem Wege nicht zu erreichen, mit der Sprache der Wissenschaft, mit ihren Begriffen, ihrer Art zu denken, nicht adäquat auszudrücken sei; — aber ist da- mit der Schluss gerechtfertigt, dass es überhaupt nicht sei, dass es nur in unserm Irrthum eine Stelle habe? Giebt es nicht noch andere und andere Erkenntnissformen, andere Methoden, die vielleicht eben das, was die naturwissenschaftliche nicht will und in richtiger Conse- quenz ihres Gesichtspunktes nicht will, die historische nicht kann oder in nur unzulänglicher Weise kann, nach ihrer Natur können und wollen? Gäbe es etwa darum kein ästhetisches Urtheil, weil es auf juristischem Wege nicht zu finden ist? darum keinen Rechtssatz, weil man einen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/69
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/69>, abgerufen am 15.08.2024.