Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

das nicht die Folge haben, dass die Wissenschaft der Geschichte sich
entweder des einen oder des andern Verfahrens bedienen müsse; und
glücklicher Weise giebt es zwischen Himmel und Erde Dinge, die sich
zur Deduction eben so irrational verhalten, wie zur Induction, die mit
der Induction und dem analytischen Verfahren zugleich die Deduction
und die Synthese fordern, um in der alternativen Bethätigung beider
nicht ganz aber mehr und mehr, nicht vollständig aber annähernd
und in gewisser Weise erfasst zu werden, die nicht entwickelt, nicht
erklärt, sondern verstanden werden wollen.

Die "Wissbegierde, die unsere Mitmenschen betrifft", ist darum
"unersättlich", weil, was sie uns da einbringt, ein Verstehen ist, und
weil mit unserem wachsenden Verständniss der Menschen und des
menschlicher Weise Seienden und Gewordenen das uns selbst Eigenste
weiter, tiefer, freier wird, ja überhaupt erst wird. So gewiss es ist,
dass auch wir Menschen in dem allgemeinen Stoffwechsel mit leben
und weben, und so richtig es sein mag, dass jeder Einzelne nur eben
die und die Atome aus der "ewigen Materie" vorübergehend zusam-
menfasst und zu seiner Daseinsform hat, eben so gewiss oder vielmehr
unendlich gewisser ist, dass vermittelst dieser "fliessenden Bildungen"
und ihrer trotz alledem vitalen Kräfte etwas gar Besonderes und Un-
vergleichliches geworden ist und wird, eine zweite Schöpfung nicht
von neuen Stoffen aber von Formen, von Gedanken, von Gemein-
samkeiten und ihren Tugenden und Pflichten, die sittliche Welt.

In diesem Bereich der sittlichen Welt ist Alles von der kleinsten
Liebesgeschichte bis zu den grossen Staatsactionen, von der einsamen
Geistesarbeit des Dichters oder Denkers bis zu den unermesslichen
Combinationen des Welthandels oder dem prüfungsreichen Ringen des
Pauperismus unserem Verständniss zugänglich; und was da ist, ver-
stehen wir, indem wir es als ein Gewordenes fassen.

Es ist bereits erwähnt worden, dass Buckle die Willensfreiheit
zugleich mit der göttlichen Providenz nicht sowohl ausser Rechnung
lässt, als vielmehr für Illusionen erklärt und über Bord wirft. Auch
in den Bereichen der Philosophie ist neuester Zeit Aehnliches gelehrt
worden; ein Denker, dessen ich mit persönlicher Hochachtung gedenke,
sagt: wenn man Alles, was ein einzelner Mensch ist und hat und
leistet, A nennt, so besteht dies A aus a + x, indem a alles umfasst,

das nicht die Folge haben, dass die Wissenschaft der Geschichte sich
entweder des einen oder des andern Verfahrens bedienen müsse; und
glücklicher Weise giebt es zwischen Himmel und Erde Dinge, die sich
zur Deduction eben so irrational verhalten, wie zur Induction, die mit
der Induction und dem analytischen Verfahren zugleich die Deduction
und die Synthese fordern, um in der alternativen Bethätigung beider
nicht ganz aber mehr und mehr, nicht vollständig aber annähernd
und in gewisser Weise erfasst zu werden, die nicht entwickelt, nicht
erklärt, sondern verstanden werden wollen.

Die „Wissbegierde, die unsere Mitmenschen betrifft“, ist darum
„unersättlich“, weil, was sie uns da einbringt, ein Verstehen ist, und
weil mit unserem wachsenden Verständniss der Menschen und des
menschlicher Weise Seienden und Gewordenen das uns selbst Eigenste
weiter, tiefer, freier wird, ja überhaupt erst wird. So gewiss es ist,
dass auch wir Menschen in dem allgemeinen Stoffwechsel mit leben
und weben, und so richtig es sein mag, dass jeder Einzelne nur eben
die und die Atome aus der „ewigen Materie“ vorübergehend zusam-
menfasst und zu seiner Daseinsform hat, eben so gewiss oder vielmehr
unendlich gewisser ist, dass vermittelst dieser „fliessenden Bildungen“
und ihrer trotz alledem vitalen Kräfte etwas gar Besonderes und Un-
vergleichliches geworden ist und wird, eine zweite Schöpfung nicht
von neuen Stoffen aber von Formen, von Gedanken, von Gemein-
samkeiten und ihren Tugenden und Pflichten, die sittliche Welt.

In diesem Bereich der sittlichen Welt ist Alles von der kleinsten
Liebesgeschichte bis zu den grossen Staatsactionen, von der einsamen
Geistesarbeit des Dichters oder Denkers bis zu den unermesslichen
Combinationen des Welthandels oder dem prüfungsreichen Ringen des
Pauperismus unserem Verständniss zugänglich; und was da ist, ver-
stehen wir, indem wir es als ein Gewordenes fassen.

Es ist bereits erwähnt worden, dass Buckle die Willensfreiheit
zugleich mit der göttlichen Providenz nicht sowohl ausser Rechnung
lässt, als vielmehr für Illusionen erklärt und über Bord wirft. Auch
in den Bereichen der Philosophie ist neuester Zeit Aehnliches gelehrt
worden; ein Denker, dessen ich mit persönlicher Hochachtung gedenke,
sagt: wenn man Alles, was ein einzelner Mensch ist und hat und
leistet, A nennt, so besteht dies A aus a + x, indem a alles umfasst,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0062" n="53"/>
das nicht die Folge haben, dass die Wissenschaft der Geschichte sich<lb/>
entweder des einen oder des andern Verfahrens bedienen müsse; und<lb/>
glücklicher Weise giebt es zwischen Himmel und Erde Dinge, die sich<lb/>
zur Deduction eben so irrational verhalten, wie zur Induction, die mit<lb/>
der Induction und dem analytischen Verfahren zugleich die Deduction<lb/>
und die Synthese fordern, um in der alternativen Bethätigung beider<lb/>
nicht ganz aber mehr und mehr, nicht vollständig aber annähernd<lb/>
und in gewisser Weise erfasst zu werden, die nicht entwickelt, nicht<lb/>
erklärt, sondern verstanden werden wollen.</p><lb/>
          <p>Die &#x201E;Wissbegierde, die unsere <choice><sic>Mitmenscheu</sic><corr>Mitmenschen</corr></choice> betrifft&#x201C;, ist darum<lb/>
&#x201E;unersättlich&#x201C;, weil, was sie uns da einbringt, ein Verstehen ist, und<lb/>
weil mit unserem wachsenden Verständniss der Menschen und des<lb/>
menschlicher Weise Seienden <choice><sic>nnd</sic><corr>und</corr></choice> Gewordenen das uns selbst Eigenste<lb/>
weiter, tiefer, freier wird, ja <choice><sic>üherhaupt</sic><corr>überhaupt</corr></choice> erst wird. So gewiss es ist,<lb/>
dass auch wir Menschen in dem allgemeinen Stoffwechsel mit leben<lb/>
und weben, und so richtig es sein mag, dass jeder Einzelne nur eben<lb/>
die und die Atome aus der &#x201E;ewigen Materie&#x201C; vorübergehend zusam-<lb/>
menfasst und zu seiner Daseinsform hat, eben so gewiss oder vielmehr<lb/>
unendlich gewisser ist, dass vermittelst dieser &#x201E;fliessenden Bildungen&#x201C;<lb/>
und ihrer trotz alledem vitalen Kräfte etwas gar Besonderes <choice><sic>nnd</sic><corr>und</corr></choice> Un-<lb/>
vergleichliches geworden ist und wird, eine zweite Schöpfung nicht<lb/>
von neuen Stoffen aber von Formen, von Gedanken, von Gemein-<lb/>
samkeiten und ihren Tugenden und Pflichten, die sittliche Welt.</p><lb/>
          <p>In diesem Bereich der sittlichen Welt ist Alles von der kleinsten<lb/>
Liebesgeschichte bis zu den grossen Staatsactionen, von der einsamen<lb/>
Geistesarbeit des Dichters oder Denkers bis zu den unermesslichen<lb/>
Combinationen des Welthandels oder dem prüfungsreichen Ringen des<lb/>
Pauperismus unserem Verständniss zugänglich; und was da ist, ver-<lb/>
stehen wir, indem wir es als ein Gewordenes fassen.</p><lb/>
          <p>Es ist bereits erwähnt worden, dass Buckle die Willensfreiheit<lb/>
zugleich mit der göttlichen Providenz nicht sowohl ausser <choice><sic>Rechnnng</sic><corr>Rechnung</corr></choice><lb/>
lässt, als vielmehr für Illusionen erklärt und über Bord wirft. Auch<lb/>
in den Bereichen der Philosophie ist neuester Zeit Aehnliches gelehrt<lb/>
worden; ein Denker, dessen ich mit persönlicher Hochachtung gedenke,<lb/>
sagt: wenn man Alles, was ein einzelner Mensch ist <choice><sic>uud</sic><corr>und</corr></choice> hat und<lb/>
leistet, A nennt, so besteht dies A aus a + x, indem a alles umfasst,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[53/0062] das nicht die Folge haben, dass die Wissenschaft der Geschichte sich entweder des einen oder des andern Verfahrens bedienen müsse; und glücklicher Weise giebt es zwischen Himmel und Erde Dinge, die sich zur Deduction eben so irrational verhalten, wie zur Induction, die mit der Induction und dem analytischen Verfahren zugleich die Deduction und die Synthese fordern, um in der alternativen Bethätigung beider nicht ganz aber mehr und mehr, nicht vollständig aber annähernd und in gewisser Weise erfasst zu werden, die nicht entwickelt, nicht erklärt, sondern verstanden werden wollen. Die „Wissbegierde, die unsere Mitmenschen betrifft“, ist darum „unersättlich“, weil, was sie uns da einbringt, ein Verstehen ist, und weil mit unserem wachsenden Verständniss der Menschen und des menschlicher Weise Seienden und Gewordenen das uns selbst Eigenste weiter, tiefer, freier wird, ja überhaupt erst wird. So gewiss es ist, dass auch wir Menschen in dem allgemeinen Stoffwechsel mit leben und weben, und so richtig es sein mag, dass jeder Einzelne nur eben die und die Atome aus der „ewigen Materie“ vorübergehend zusam- menfasst und zu seiner Daseinsform hat, eben so gewiss oder vielmehr unendlich gewisser ist, dass vermittelst dieser „fliessenden Bildungen“ und ihrer trotz alledem vitalen Kräfte etwas gar Besonderes und Un- vergleichliches geworden ist und wird, eine zweite Schöpfung nicht von neuen Stoffen aber von Formen, von Gedanken, von Gemein- samkeiten und ihren Tugenden und Pflichten, die sittliche Welt. In diesem Bereich der sittlichen Welt ist Alles von der kleinsten Liebesgeschichte bis zu den grossen Staatsactionen, von der einsamen Geistesarbeit des Dichters oder Denkers bis zu den unermesslichen Combinationen des Welthandels oder dem prüfungsreichen Ringen des Pauperismus unserem Verständniss zugänglich; und was da ist, ver- stehen wir, indem wir es als ein Gewordenes fassen. Es ist bereits erwähnt worden, dass Buckle die Willensfreiheit zugleich mit der göttlichen Providenz nicht sowohl ausser Rechnung lässt, als vielmehr für Illusionen erklärt und über Bord wirft. Auch in den Bereichen der Philosophie ist neuester Zeit Aehnliches gelehrt worden; ein Denker, dessen ich mit persönlicher Hochachtung gedenke, sagt: wenn man Alles, was ein einzelner Mensch ist und hat und leistet, A nennt, so besteht dies A aus a + x, indem a alles umfasst,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/62
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/62>, abgerufen am 25.11.2024.