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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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die Klasse der physikalischen versetzt worden sind? wäre in der That
das Wesen und der Bereich der Wissenschaft damit richtig definirt?
müssten die anderen Gebiete menschlicher Erkenntniss anerkennen nur
so weit wissenschaftlicher Art zu sein, als sie im Stande sind, vitale
Erscheinungen in die Classe der physikalischen zu versetzen?

Es sind nicht bloss die staunenswürdigen Leistungen und Erfolge
der naturwissenschaftlichen Arbeiten, welche die Ueberzeugung ver-
breiten, ihre Methode sei die in vorzüglichem Maas wissenschaftliche,
die allein wissenschaftliche. Es liegt in der Bildungsweise unseres
Zeitalters, in dem Entwickelungsstadium, in das unsere socialen und
sittlichen Zustände eingetreten sind, der tiefere Grund für die Popu-
larität einer Betrachtungsweise, welche für die Welt der quantitativen
Erscheinungen die entsprechende ist.

Buckle ist nicht der erste, welcher den Versuch gemacht hat dem
unwissenschaftlichen Character der Geschichte, der amethodos ule,
wie schon ein alter Schriftsteller sie nennt, dadurch beizukommen, dass
ihre vitalen Erscheinungen unter Gesichtspunkte gestellt werden, welche
denen, von welchen die exacten Wissenschaften ausgehen, analog sind.
Aber was von Andern -- etwa in der Formel des Naturwüchsigen --
gelegentlich eingemengt, oder in der sehr unzulänglichen, nur meta-
phorischen Vorstellung des Organischen durchgeführt, was von Andern
-- so von Comte in der anziehenden "Philosophie positive" -- specu-
lativ entwickelt ist, unternimmt Buckle in einer umfassenden histori-
schen Darlegung zu begründen.

Er spricht mit scharfen Ausdrücken über die "Zunft der Histori-
ker" und ihre bisherigen Leistungen, über die Gedankenlosigkeit, mit
der sie gearbeitet, die Principlosigkeit, mit der sie geforscht haben;
er meint, dass nach ihrer Art zu arbeiten "jeder Schriftsteller zum
Geschichtschreiber" befähigt ist; "sei derselbe auch aus Denkfaulheit
oder natürlicher Beschränktheit unfähig die höchsten Zweige des Wissens
zu behandeln, er braucht nur einige Jahre auf das Lesen einer gewissen
Anzahl Bücher zu verwenden, und er mag die Geschichte eines grossen
Volkes schreiben und in seinem Fache ein Ansehen erlangen." Er
findet, dass "für alle höheren Richtungen des menschlichen Denkens
die Geschichte noch in beklagenswerther Unvollkommenheit liegt und
eine so verworrene und anarchische Erscheinung darbietet, wie es sich

die Klasse der physikalischen versetzt worden sind? wäre in der That
das Wesen und der Bereich der Wissenschaft damit richtig definirt?
müssten die anderen Gebiete menschlicher Erkenntniss anerkennen nur
so weit wissenschaftlicher Art zu sein, als sie im Stande sind, vitale
Erscheinungen in die Classe der physikalischen zu versetzen?

Es sind nicht bloss die staunenswürdigen Leistungen und Erfolge
der naturwissenschaftlichen Arbeiten, welche die Ueberzeugung ver-
breiten, ihre Methode sei die in vorzüglichem Maas wissenschaftliche,
die allein wissenschaftliche. Es liegt in der Bildungsweise unseres
Zeitalters, in dem Entwickelungsstadium, in das unsere socialen und
sittlichen Zustände eingetreten sind, der tiefere Grund für die Popu-
larität einer Betrachtungsweise, welche für die Welt der quantitativen
Erscheinungen die entsprechende ist.

Buckle ist nicht der erste, welcher den Versuch gemacht hat dem
unwissenschaftlichen Character der Geschichte, der ἀμέϑοδος ὕλη,
wie schon ein alter Schriftsteller sie nennt, dadurch beizukommen, dass
ihre vitalen Erscheinungen unter Gesichtspunkte gestellt werden, welche
denen, von welchen die exacten Wissenschaften ausgehen, analog sind.
Aber was von Andern — etwa in der Formel des Naturwüchsigen —
gelegentlich eingemengt, oder in der sehr unzulänglichen, nur meta-
phorischen Vorstellung des Organischen durchgeführt, was von Andern
— so von Comte in der anziehenden „Philosophie positive“ — specu-
lativ entwickelt ist, unternimmt Buckle in einer umfassenden histori-
schen Darlegung zu begründen.

Er spricht mit scharfen Ausdrücken über die „Zunft der Histori-
ker“ und ihre bisherigen Leistungen, über die Gedankenlosigkeit, mit
der sie gearbeitet, die Principlosigkeit, mit der sie geforscht haben;
er meint, dass nach ihrer Art zu arbeiten „jeder Schriftsteller zum
Geschichtschreiber“ befähigt ist; „sei derselbe auch aus Denkfaulheit
oder natürlicher Beschränktheit unfähig die höchsten Zweige des Wissens
zu behandeln, er braucht nur einige Jahre auf das Lesen einer gewissen
Anzahl Bücher zu verwenden, und er mag die Geschichte eines grossen
Volkes schreiben und in seinem Fache ein Ansehen erlangen.“ Er
findet, dass „für alle höheren Richtungen des menschlichen Denkens
die Geschichte noch in beklagenswerther Unvollkommenheit liegt und
eine so verworrene und anarchische Erscheinung darbietet, wie es sich

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[42/0051] die Klasse der physikalischen versetzt worden sind? wäre in der That das Wesen und der Bereich der Wissenschaft damit richtig definirt? müssten die anderen Gebiete menschlicher Erkenntniss anerkennen nur so weit wissenschaftlicher Art zu sein, als sie im Stande sind, vitale Erscheinungen in die Classe der physikalischen zu versetzen? Es sind nicht bloss die staunenswürdigen Leistungen und Erfolge der naturwissenschaftlichen Arbeiten, welche die Ueberzeugung ver- breiten, ihre Methode sei die in vorzüglichem Maas wissenschaftliche, die allein wissenschaftliche. Es liegt in der Bildungsweise unseres Zeitalters, in dem Entwickelungsstadium, in das unsere socialen und sittlichen Zustände eingetreten sind, der tiefere Grund für die Popu- larität einer Betrachtungsweise, welche für die Welt der quantitativen Erscheinungen die entsprechende ist. Buckle ist nicht der erste, welcher den Versuch gemacht hat dem unwissenschaftlichen Character der Geschichte, der ἀμέϑοδος ὕλη, wie schon ein alter Schriftsteller sie nennt, dadurch beizukommen, dass ihre vitalen Erscheinungen unter Gesichtspunkte gestellt werden, welche denen, von welchen die exacten Wissenschaften ausgehen, analog sind. Aber was von Andern — etwa in der Formel des Naturwüchsigen — gelegentlich eingemengt, oder in der sehr unzulänglichen, nur meta- phorischen Vorstellung des Organischen durchgeführt, was von Andern — so von Comte in der anziehenden „Philosophie positive“ — specu- lativ entwickelt ist, unternimmt Buckle in einer umfassenden histori- schen Darlegung zu begründen. Er spricht mit scharfen Ausdrücken über die „Zunft der Histori- ker“ und ihre bisherigen Leistungen, über die Gedankenlosigkeit, mit der sie gearbeitet, die Principlosigkeit, mit der sie geforscht haben; er meint, dass nach ihrer Art zu arbeiten „jeder Schriftsteller zum Geschichtschreiber“ befähigt ist; „sei derselbe auch aus Denkfaulheit oder natürlicher Beschränktheit unfähig die höchsten Zweige des Wissens zu behandeln, er braucht nur einige Jahre auf das Lesen einer gewissen Anzahl Bücher zu verwenden, und er mag die Geschichte eines grossen Volkes schreiben und in seinem Fache ein Ansehen erlangen.“ Er findet, dass „für alle höheren Richtungen des menschlichen Denkens die Geschichte noch in beklagenswerther Unvollkommenheit liegt und eine so verworrene und anarchische Erscheinung darbietet, wie es sich

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/51>, abgerufen am 22.11.2024.