Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Thatsache", sondern dass das Material fertig gemacht ist, aus dem
das geistige Gegenbild derselben zu gewinnen ist.

Die Gewissenhaftigkeit, die über die Resultate der Kritik nicht
hinausgehen will, irrt darin, dass sie nicht beachtet, wie sie der Phan-
tasie überlässt mit ihnen weiter zu arbeiten, statt auch für diese wei-
tere Arbeit ihre Regel zu finden.

III. Die Interpretation.
§. 37.

Weder die Kritik sucht, noch die Interpretation fordert die
Anfänge. In der sittlichen Welt ist nichts unvermittelt.

Die historische Forschung will nicht erklären, d. h. aus dem Frühe-
ren das Spätere wie nach logischer Nothwendigkeit ableiten, sondern
verstehen.

Läge die logische Nothwendigkeit des Späteren in dem Früheren,
so wäre statt der sittlichen Welt ein Analogon der ewigen Materie und
des Stoffwechsels.

Wäre das geschichtliche Leben nur Wiedererzeugung des immer
Gleichen, so wäre es ohne Freiheit und Verantwortlichkeit, ohne sitt-
lichen Inhalt, nur organischer Natur.

§. 38.

Wie sich im Gehen vereint: a) der Mechanismus der schrei-
tenden Glieder; b) die durch die Ebenheit oder Unebenheit, Glätte,
Härte u. s. w. des Bodens bedingte Spannung der Muskeln; c) der
Wille, welcher den Körper bewegt; d) der Zweck des Wollenden, um
dess Willen er geht, -- so nach vier Gesichtspunkten vollzieht sich
die Interpretation.

Dass einseitig der eine oder andere hervorgehoben, als wesentlich,
als ausschliesslich bestimmend zur Geltung gebracht wird, ist die
Quelle vieler theoretischer und practischer Irrthümer, ist doctrinär.
Denn das Wesen des Doctrinarismus ist, dem Resultat einseitiger und
unvollständiger Beobachtung den Werth eines normativen Abschlusses
zu geben.

2*

Thatsache“, sondern dass das Material fertig gemacht ist, aus dem
das geistige Gegenbild derselben zu gewinnen ist.

Die Gewissenhaftigkeit, die über die Resultate der Kritik nicht
hinausgehen will, irrt darin, dass sie nicht beachtet, wie sie der Phan-
tasie überlässt mit ihnen weiter zu arbeiten, statt auch für diese wei-
tere Arbeit ihre Regel zu finden.

III. Die Interpretation.
§. 37.

Weder die Kritik sucht, noch die Interpretation fordert die
Anfänge. In der sittlichen Welt ist nichts unvermittelt.

Die historische Forschung will nicht erklären, d. h. aus dem Frühe-
ren das Spätere wie nach logischer Nothwendigkeit ableiten, sondern
verstehen.

Läge die logische Nothwendigkeit des Späteren in dem Früheren,
so wäre statt der sittlichen Welt ein Analogon der ewigen Materie und
des Stoffwechsels.

Wäre das geschichtliche Leben nur Wiedererzeugung des immer
Gleichen, so wäre es ohne Freiheit und Verantwortlichkeit, ohne sitt-
lichen Inhalt, nur organischer Natur.

§. 38.

Wie sich im Gehen vereint: a) der Mechanismus der schrei-
tenden Glieder; b) die durch die Ebenheit oder Unebenheit, Glätte,
Härte u. s. w. des Bodens bedingte Spannung der Muskeln; c) der
Wille, welcher den Körper bewegt; d) der Zweck des Wollenden, um
dess Willen er geht, — so nach vier Gesichtspunkten vollzieht sich
die Interpretation.

Dass einseitig der eine oder andere hervorgehoben, als wesentlich,
als ausschliesslich bestimmend zur Geltung gebracht wird, ist die
Quelle vieler theoretischer und practischer Irrthümer, ist doctrinär.
Denn das Wesen des Doctrinarismus ist, dem Resultat einseitiger und
unvollständiger Beobachtung den Werth eines normativen Abschlusses
zu geben.

2*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0028" n="19"/>
Thatsache&#x201C;, sondern dass das Material fertig gemacht ist, aus dem<lb/>
das geistige Gegenbild derselben zu gewinnen ist.</p><lb/>
              <p>Die Gewissenhaftigkeit, die über die Resultate der Kritik nicht<lb/>
hinausgehen will, irrt darin, dass sie nicht beachtet, wie sie der Phan-<lb/>
tasie überlässt mit ihnen weiter zu arbeiten, statt auch für diese wei-<lb/>
tere Arbeit ihre Regel zu finden.</p>
            </div>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">III. Die Interpretation.</hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 37.</head><lb/>
              <p>Weder die Kritik sucht, noch die Interpretation fordert die<lb/><hi rendition="#g">Anfänge</hi>. In der sittlichen Welt ist nichts unvermittelt.</p><lb/>
              <p>Die historische Forschung will nicht erklären, d. h. aus dem Frühe-<lb/>
ren das Spätere wie nach logischer Nothwendigkeit ableiten, sondern<lb/>
verstehen.</p><lb/>
              <p>Läge die logische Nothwendigkeit des Späteren in dem Früheren,<lb/>
so wäre statt der sittlichen Welt ein Analogon der ewigen Materie und<lb/>
des Stoffwechsels.</p><lb/>
              <p>Wäre das geschichtliche Leben nur Wiedererzeugung des immer<lb/>
Gleichen, so wäre es ohne Freiheit und Verantwortlichkeit, ohne sitt-<lb/>
lichen Inhalt, nur organischer Natur.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 38.</head><lb/>
              <p>Wie sich im Gehen vereint: a) der Mechanismus der schrei-<lb/>
tenden Glieder; b) die durch die Ebenheit oder Unebenheit, Glätte,<lb/>
Härte u. s. w. des Bodens bedingte Spannung der Muskeln; c) der<lb/>
Wille, welcher den Körper bewegt; d) der Zweck des Wollenden, um<lb/>
dess Willen er geht, &#x2014; so nach vier Gesichtspunkten vollzieht sich<lb/>
die Interpretation.</p><lb/>
              <p>Dass einseitig der eine oder andere hervorgehoben, als wesentlich,<lb/>
als ausschliesslich bestimmend zur Geltung gebracht wird, ist die<lb/>
Quelle vieler theoretischer und practischer Irrthümer, ist doctrinär.<lb/>
Denn das Wesen des Doctrinarismus ist, dem Resultat einseitiger und<lb/>
unvollständiger Beobachtung den Werth eines normativen Abschlusses<lb/>
zu geben.</p>
            </div><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">2*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0028] Thatsache“, sondern dass das Material fertig gemacht ist, aus dem das geistige Gegenbild derselben zu gewinnen ist. Die Gewissenhaftigkeit, die über die Resultate der Kritik nicht hinausgehen will, irrt darin, dass sie nicht beachtet, wie sie der Phan- tasie überlässt mit ihnen weiter zu arbeiten, statt auch für diese wei- tere Arbeit ihre Regel zu finden. III. Die Interpretation. §. 37. Weder die Kritik sucht, noch die Interpretation fordert die Anfänge. In der sittlichen Welt ist nichts unvermittelt. Die historische Forschung will nicht erklären, d. h. aus dem Frühe- ren das Spätere wie nach logischer Nothwendigkeit ableiten, sondern verstehen. Läge die logische Nothwendigkeit des Späteren in dem Früheren, so wäre statt der sittlichen Welt ein Analogon der ewigen Materie und des Stoffwechsels. Wäre das geschichtliche Leben nur Wiedererzeugung des immer Gleichen, so wäre es ohne Freiheit und Verantwortlichkeit, ohne sitt- lichen Inhalt, nur organischer Natur. §. 38. Wie sich im Gehen vereint: a) der Mechanismus der schrei- tenden Glieder; b) die durch die Ebenheit oder Unebenheit, Glätte, Härte u. s. w. des Bodens bedingte Spannung der Muskeln; c) der Wille, welcher den Körper bewegt; d) der Zweck des Wollenden, um dess Willen er geht, — so nach vier Gesichtspunkten vollzieht sich die Interpretation. Dass einseitig der eine oder andere hervorgehoben, als wesentlich, als ausschliesslich bestimmend zur Geltung gebracht wird, ist die Quelle vieler theoretischer und practischer Irrthümer, ist doctrinär. Denn das Wesen des Doctrinarismus ist, dem Resultat einseitiger und unvollständiger Beobachtung den Werth eines normativen Abschlusses zu geben. 2*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/28
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/28>, abgerufen am 21.11.2024.