Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833].

Bild:
<< vorherige Seite

sehendes Auge, verflucht sich, sein Geschlecht, seine Stadt, und das
Schicksal eilt seinen Spruch zu erfüllen, bis der Bruder den Bru-
der erschlagen hat, bis ein Trümmerhaufe die Stätte dreifacher
Blutschuld deckt.

Und schon beginnt Frevel und Blutschuld heimisch zu werden
unter den Menschen, die Zeit der Heroen eilt ihrem Ende zu; die
Fürstensöhne, die um die schöne Helena geworben, sitzen daheim bei
Weib und Kind, und kämpfen nicht mehr gegen Riesen und Frevel.
Da rufen die Herolde der Atriden zum Heereszuge gen Osten auf;
gen Osten ist Helena entführt von dem Gastrechtschänder Paris.
Von Aulis aus ziehen die Fürsten Griechenlands gen Asien, und
mit den Fürsten ihre Getreuen und ihre Völker. Lange Jahre
hindurch kämpfen und dulden sie, und Achilles feiert die Leichenspiele
seines Freundes Patroklus; dann trifft ihn selbst der Pfeil des Ver-
räthers und des Kampfes Ende ist gekommen; Troja fällt. Wohl
haben die Achäer erreicht, was sie wollten, aber die Heimath ist für
sie verloren; die einen sterben in den Fluthen des empörten Meers,
andere zerstreuen sich in die fernen Länder der Barbaren, oder er-
liegen der blutigen Tücke, die am heimathlichen Heerde ihrer harrt.
Die Zeit der Heroen ist vorüber, und von dem entarteten Geschlecht
wenden die Götter ihr Antlitz.

So die Sagen und die Ahnungen des Volks; und als an den
Küsten des Aegäischen Meres die Gesänge der Homeriden verstumm-
ten, begannen sie sich zu erfüllen. Aus fernem Osten drangen die
Heere der Perser heran, sie kämpften am Halys, bald unter den
Mauern von Sardes, und mit dem Lydierreiche fielen die Hellenischen
Städte der Küste, die, jetzt in Barbarenhand, den Blick der freiern
Hellenen von Neuem gen Osten lenkten und zu unablässigen
Kämpfen für die Freiheit aufriefen. Jene Städte empörten sich,
von den Athenern unterstützt drangen die Jonier siegreich bis
Sardes vor, aber nur um desto tiefer zu fallen. Mit der Einnahme
Milets war die ganze Küste geknechtet; die Inseln unterwarfen sich,
die See ward von Phönizischen Flotten beherrscht, ihre Nordküste
von Persern besetzt, schon kamen Gesandte des großen Königs nach
dem Griechischen Festlande und forderten Erde und Wasser. Aber
in der Ebene von Marathon retteten die Athener ihre junge Frei-
heit, und schützten die Hellenische Heimath vor dem Joche Asiatischer

ſehendes Auge, verflucht ſich, ſein Geſchlecht, ſeine Stadt, und das
Schickſal eilt ſeinen Spruch zu erfüllen, bis der Bruder den Bru-
der erſchlagen hat, bis ein Trümmerhaufe die Stätte dreifacher
Blutſchuld deckt.

Und ſchon beginnt Frevel und Blutſchuld heimiſch zu werden
unter den Menſchen, die Zeit der Heroen eilt ihrem Ende zu; die
Fürſtenſöhne, die um die ſchöne Helena geworben, ſitzen daheim bei
Weib und Kind, und kämpfen nicht mehr gegen Rieſen und Frevel.
Da rufen die Herolde der Atriden zum Heereszuge gen Oſten auf;
gen Oſten iſt Helena entführt von dem Gaſtrechtſchänder Paris.
Von Aulis aus ziehen die Fürſten Griechenlands gen Aſien, und
mit den Fürſten ihre Getreuen und ihre Völker. Lange Jahre
hindurch kämpfen und dulden ſie, und Achilles feiert die Leichenſpiele
ſeines Freundes Patroklus; dann trifft ihn ſelbſt der Pfeil des Ver-
räthers und des Kampfes Ende iſt gekommen; Troja fällt. Wohl
haben die Achäer erreicht, was ſie wollten, aber die Heimath iſt für
ſie verloren; die einen ſterben in den Fluthen des empörten Meers,
andere zerſtreuen ſich in die fernen Länder der Barbaren, oder er-
liegen der blutigen Tücke, die am heimathlichen Heerde ihrer harrt.
Die Zeit der Heroen iſt vorüber, und von dem entarteten Geſchlecht
wenden die Götter ihr Antlitz.

So die Sagen und die Ahnungen des Volks; und als an den
Küſten des Aegäiſchen Meres die Geſänge der Homeriden verſtumm-
ten, begannen ſie ſich zu erfüllen. Aus fernem Oſten drangen die
Heere der Perſer heran, ſie kämpften am Halys, bald unter den
Mauern von Sardes, und mit dem Lydierreiche fielen die Helleniſchen
Städte der Küſte, die, jetzt in Barbarenhand, den Blick der freiern
Hellenen von Neuem gen Oſten lenkten und zu unabläſſigen
Kämpfen für die Freiheit aufriefen. Jene Städte empörten ſich,
von den Athenern unterſtützt drangen die Jonier ſiegreich bis
Sardes vor, aber nur um deſto tiefer zu fallen. Mit der Einnahme
Milets war die ganze Küſte geknechtet; die Inſeln unterwarfen ſich,
die See ward von Phöniziſchen Flotten beherrſcht, ihre Nordküſte
von Perſern beſetzt, ſchon kamen Geſandte des großen Königs nach
dem Griechiſchen Feſtlande und forderten Erde und Waſſer. Aber
in der Ebene von Marathon retteten die Athener ihre junge Frei-
heit, und ſchützten die Helleniſche Heimath vor dem Joche Aſiatiſcher

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0020" n="6"/>
&#x017F;ehendes Auge, verflucht &#x017F;ich, &#x017F;ein Ge&#x017F;chlecht, &#x017F;eine Stadt, und das<lb/>
Schick&#x017F;al eilt &#x017F;einen Spruch zu erfüllen, bis der Bruder den Bru-<lb/>
der er&#x017F;chlagen hat, bis ein Trümmerhaufe die Stätte dreifacher<lb/>
Blut&#x017F;chuld deckt.</p><lb/>
          <p>Und &#x017F;chon beginnt Frevel und Blut&#x017F;chuld heimi&#x017F;ch zu werden<lb/>
unter den Men&#x017F;chen, die Zeit der Heroen eilt ihrem Ende zu; die<lb/>
Für&#x017F;ten&#x017F;öhne, die um die &#x017F;chöne Helena geworben, &#x017F;itzen daheim bei<lb/>
Weib und Kind, und kämpfen nicht mehr gegen Rie&#x017F;en und Frevel.<lb/>
Da rufen die Herolde der Atriden zum Heereszuge gen O&#x017F;ten auf;<lb/>
gen O&#x017F;ten i&#x017F;t Helena entführt von dem Ga&#x017F;trecht&#x017F;chänder Paris.<lb/>
Von Aulis aus ziehen die Für&#x017F;ten Griechenlands gen A&#x017F;ien, und<lb/>
mit den Für&#x017F;ten ihre Getreuen und ihre Völker. Lange Jahre<lb/>
hindurch kämpfen und dulden &#x017F;ie, und Achilles feiert die Leichen&#x017F;piele<lb/>
&#x017F;eines Freundes Patroklus; dann trifft ihn &#x017F;elb&#x017F;t der Pfeil des Ver-<lb/>
räthers und des Kampfes Ende i&#x017F;t gekommen; Troja fällt. Wohl<lb/>
haben die Achäer erreicht, was &#x017F;ie wollten, aber die Heimath i&#x017F;t für<lb/>
&#x017F;ie verloren; die einen &#x017F;terben in den Fluthen des empörten Meers,<lb/>
andere zer&#x017F;treuen &#x017F;ich in die fernen Länder der Barbaren, oder er-<lb/>
liegen der blutigen Tücke, die am heimathlichen Heerde ihrer harrt.<lb/>
Die Zeit der Heroen i&#x017F;t vorüber, und von dem entarteten Ge&#x017F;chlecht<lb/>
wenden die Götter ihr Antlitz.</p><lb/>
          <p>So die Sagen und die Ahnungen des Volks; und als an den<lb/>&#x017F;ten des Aegäi&#x017F;chen Meres die Ge&#x017F;änge der Homeriden ver&#x017F;tumm-<lb/>
ten, begannen &#x017F;ie &#x017F;ich zu erfüllen. Aus fernem O&#x017F;ten drangen die<lb/>
Heere der Per&#x017F;er heran, &#x017F;ie kämpften am Halys, bald unter den<lb/>
Mauern von Sardes, und mit dem Lydierreiche fielen die Helleni&#x017F;chen<lb/>
Städte der Kü&#x017F;te, die, jetzt in Barbarenhand, den Blick der freiern<lb/>
Hellenen von Neuem gen O&#x017F;ten lenkten und zu unablä&#x017F;&#x017F;igen<lb/>
Kämpfen für die Freiheit aufriefen. Jene Städte empörten &#x017F;ich,<lb/>
von den Athenern unter&#x017F;tützt drangen die Jonier &#x017F;iegreich bis<lb/>
Sardes vor, aber nur um de&#x017F;to tiefer zu fallen. Mit der Einnahme<lb/>
Milets war die ganze Kü&#x017F;te geknechtet; die In&#x017F;eln unterwarfen &#x017F;ich,<lb/>
die See ward von Phönizi&#x017F;chen Flotten beherr&#x017F;cht, ihre Nordkü&#x017F;te<lb/>
von Per&#x017F;ern be&#x017F;etzt, &#x017F;chon kamen Ge&#x017F;andte des großen Königs nach<lb/>
dem Griechi&#x017F;chen Fe&#x017F;tlande und forderten Erde und Wa&#x017F;&#x017F;er. Aber<lb/>
in der Ebene von Marathon retteten die Athener ihre junge Frei-<lb/>
heit, und &#x017F;chützten die Helleni&#x017F;che Heimath vor dem Joche A&#x017F;iati&#x017F;cher<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0020] ſehendes Auge, verflucht ſich, ſein Geſchlecht, ſeine Stadt, und das Schickſal eilt ſeinen Spruch zu erfüllen, bis der Bruder den Bru- der erſchlagen hat, bis ein Trümmerhaufe die Stätte dreifacher Blutſchuld deckt. Und ſchon beginnt Frevel und Blutſchuld heimiſch zu werden unter den Menſchen, die Zeit der Heroen eilt ihrem Ende zu; die Fürſtenſöhne, die um die ſchöne Helena geworben, ſitzen daheim bei Weib und Kind, und kämpfen nicht mehr gegen Rieſen und Frevel. Da rufen die Herolde der Atriden zum Heereszuge gen Oſten auf; gen Oſten iſt Helena entführt von dem Gaſtrechtſchänder Paris. Von Aulis aus ziehen die Fürſten Griechenlands gen Aſien, und mit den Fürſten ihre Getreuen und ihre Völker. Lange Jahre hindurch kämpfen und dulden ſie, und Achilles feiert die Leichenſpiele ſeines Freundes Patroklus; dann trifft ihn ſelbſt der Pfeil des Ver- räthers und des Kampfes Ende iſt gekommen; Troja fällt. Wohl haben die Achäer erreicht, was ſie wollten, aber die Heimath iſt für ſie verloren; die einen ſterben in den Fluthen des empörten Meers, andere zerſtreuen ſich in die fernen Länder der Barbaren, oder er- liegen der blutigen Tücke, die am heimathlichen Heerde ihrer harrt. Die Zeit der Heroen iſt vorüber, und von dem entarteten Geſchlecht wenden die Götter ihr Antlitz. So die Sagen und die Ahnungen des Volks; und als an den Küſten des Aegäiſchen Meres die Geſänge der Homeriden verſtumm- ten, begannen ſie ſich zu erfüllen. Aus fernem Oſten drangen die Heere der Perſer heran, ſie kämpften am Halys, bald unter den Mauern von Sardes, und mit dem Lydierreiche fielen die Helleniſchen Städte der Küſte, die, jetzt in Barbarenhand, den Blick der freiern Hellenen von Neuem gen Oſten lenkten und zu unabläſſigen Kämpfen für die Freiheit aufriefen. Jene Städte empörten ſich, von den Athenern unterſtützt drangen die Jonier ſiegreich bis Sardes vor, aber nur um deſto tiefer zu fallen. Mit der Einnahme Milets war die ganze Küſte geknechtet; die Inſeln unterwarfen ſich, die See ward von Phöniziſchen Flotten beherrſcht, ihre Nordküſte von Perſern beſetzt, ſchon kamen Geſandte des großen Königs nach dem Griechiſchen Feſtlande und forderten Erde und Waſſer. Aber in der Ebene von Marathon retteten die Athener ihre junge Frei- heit, und ſchützten die Helleniſche Heimath vor dem Joche Aſiatiſcher

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/20
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833], S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/20>, abgerufen am 24.11.2024.