Nacht des ungeschaffenen Anfangs; drum ringen die Völker aus Abend und Morgen den Kampf der Vernichtung; sie sehnen sich nach endlicher Ruhe.
Diese Sehnsucht der Völker ist ein verlornes Paradies; aus sei- nem Paradiese trieb den Sohn des Morgenlandes die Angst des erwachten Gedankens, der umsonst nach Freiheit rang; gebannt in die weitlagernde Einöde von Höhen und Tiefen, umfluthet von den heimathlosen Horden der Urzeit, die er nur zu knechten, nicht zu ordnen vermochte, verdammt zum ewigen Arhimanskampfe des Ge- setzes und der Ohnmacht, zog er umsonst gen Abend, gegen die Völ- ker der Freiheit.
Dieselbe Sehnsucht ist das Mährchen von der goldenen Zeit, von der der Grieche träumte und sang und nicht müde wurde zu dichten; denn da herrschte der Friede der seligen Götter und die Menschen lebten fromm und glücklich und wandelten mit den Göt- tern im heiligen Haine, ihr Himmel war auf Erden und der Freude kein Ende. So dichtete der Grieche, und seine Sehnsucht gestaltete sich zu den Kämpfen und Leiden der Heroen, zur Freiheit der Kraft und des Willens; seine Welt ward die Bühne eines steten Ringens, die Palästra des Gedankens, sein Leben dem großen Kampfspiel der Zukunft geweiht, dessen Siegespalme jenseit des Meeres, jenseit des erkämpften Perserreichs, an den stillen Ufern des Ganges grünt. Dann ist die Zeit erfüllt, dann kämpft und siegt der Heldenjüng- ling mit seinen Getreuen, dann jauchzen und frohlocken die Völker vom Aufgang bis zum Niedergang; er aber kehrt ohne die Palme des Ganges zurück, und um sein frühes Grab fluthet ein neues, wilder gährendes Chaos.
Denselben Kampf wiederholen die Jahrhunderte unablässig; die- selbe Angst treibt die Völker Asiens gen Westen, dasselbe Verlangen den Abendländer zum heiligen Grabe, zu den Schätzen Golkondas, zum verschollenen Golde des Altai; mit allen Waffen der Gewalt und List, der Wildheit und Bildung, des Glaubens und Wissens, der Masse und des Gedankens treten neue und neue Völker in die Schranken, und nur die Potenzen ihrer Gewalt unterscheiden sie. Schon nistet Asien nah am Herzen Europas, schon hat Europa die Thore des hohen Asiens erbrochen; wer kennt die Zukunft? Aber einst, wenn aus Abend und Morgen der letzte Kampf entschieden
Nacht des ungeſchaffenen Anfangs; drum ringen die Völker aus Abend und Morgen den Kampf der Vernichtung; ſie ſehnen ſich nach endlicher Ruhe.
Dieſe Sehnſucht der Völker iſt ein verlornes Paradies; aus ſei- nem Paradieſe trieb den Sohn des Morgenlandes die Angſt des erwachten Gedankens, der umſonſt nach Freiheit rang; gebannt in die weitlagernde Einöde von Höhen und Tiefen, umfluthet von den heimathloſen Horden der Urzeit, die er nur zu knechten, nicht zu ordnen vermochte, verdammt zum ewigen Arhimanskampfe des Ge- ſetzes und der Ohnmacht, zog er umſonſt gen Abend, gegen die Völ- ker der Freiheit.
Dieſelbe Sehnſucht iſt das Mährchen von der goldenen Zeit, von der der Grieche träumte und ſang und nicht müde wurde zu dichten; denn da herrſchte der Friede der ſeligen Götter und die Menſchen lebten fromm und glücklich und wandelten mit den Göt- tern im heiligen Haine, ihr Himmel war auf Erden und der Freude kein Ende. So dichtete der Grieche, und ſeine Sehnſucht geſtaltete ſich zu den Kämpfen und Leiden der Heroen, zur Freiheit der Kraft und des Willens; ſeine Welt ward die Bühne eines ſteten Ringens, die Paläſtra des Gedankens, ſein Leben dem großen Kampfſpiel der Zukunft geweiht, deſſen Siegespalme jenſeit des Meeres, jenſeit des erkämpften Perſerreichs, an den ſtillen Ufern des Ganges grünt. Dann iſt die Zeit erfüllt, dann kämpft und ſiegt der Heldenjüng- ling mit ſeinen Getreuen, dann jauchzen und frohlocken die Völker vom Aufgang bis zum Niedergang; er aber kehrt ohne die Palme des Ganges zurück, und um ſein frühes Grab fluthet ein neues, wilder gährendes Chaos.
Denſelben Kampf wiederholen die Jahrhunderte unabläſſig; die- ſelbe Angſt treibt die Völker Aſiens gen Weſten, daſſelbe Verlangen den Abendländer zum heiligen Grabe, zu den Schätzen Golkondas, zum verſchollenen Golde des Altai; mit allen Waffen der Gewalt und Liſt, der Wildheit und Bildung, des Glaubens und Wiſſens, der Maſſe und des Gedankens treten neue und neue Völker in die Schranken, und nur die Potenzen ihrer Gewalt unterſcheiden ſie. Schon niſtet Aſien nah am Herzen Europas, ſchon hat Europa die Thore des hohen Aſiens erbrochen; wer kennt die Zukunft? Aber einſt, wenn aus Abend und Morgen der letzte Kampf entſchieden
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Nacht des ungeſchaffenen Anfangs; drum ringen die Völker aus
Abend und Morgen den Kampf der Vernichtung; ſie ſehnen ſich
nach endlicher Ruhe.
Dieſe Sehnſucht der Völker iſt ein verlornes Paradies; aus ſei-
nem Paradieſe trieb den Sohn des Morgenlandes die Angſt des
erwachten Gedankens, der umſonſt nach Freiheit rang; gebannt in
die weitlagernde Einöde von Höhen und Tiefen, umfluthet von den
heimathloſen Horden der Urzeit, die er nur zu knechten, nicht zu
ordnen vermochte, verdammt zum ewigen Arhimanskampfe des Ge-
ſetzes und der Ohnmacht, zog er umſonſt gen Abend, gegen die Völ-
ker der Freiheit.
Dieſelbe Sehnſucht iſt das Mährchen von der goldenen Zeit,
von der der Grieche träumte und ſang und nicht müde wurde zu
dichten; denn da herrſchte der Friede der ſeligen Götter und die
Menſchen lebten fromm und glücklich und wandelten mit den Göt-
tern im heiligen Haine, ihr Himmel war auf Erden und der Freude
kein Ende. So dichtete der Grieche, und ſeine Sehnſucht geſtaltete
ſich zu den Kämpfen und Leiden der Heroen, zur Freiheit der Kraft
und des Willens; ſeine Welt ward die Bühne eines ſteten Ringens,
die Paläſtra des Gedankens, ſein Leben dem großen Kampfſpiel der
Zukunft geweiht, deſſen Siegespalme jenſeit des Meeres, jenſeit
des erkämpften Perſerreichs, an den ſtillen Ufern des Ganges grünt.
Dann iſt die Zeit erfüllt, dann kämpft und ſiegt der Heldenjüng-
ling mit ſeinen Getreuen, dann jauchzen und frohlocken die Völker
vom Aufgang bis zum Niedergang; er aber kehrt ohne die Palme
des Ganges zurück, und um ſein frühes Grab fluthet ein neues,
wilder gährendes Chaos.
Denſelben Kampf wiederholen die Jahrhunderte unabläſſig; die-
ſelbe Angſt treibt die Völker Aſiens gen Weſten, daſſelbe Verlangen
den Abendländer zum heiligen Grabe, zu den Schätzen Golkondas,
zum verſchollenen Golde des Altai; mit allen Waffen der Gewalt
und Liſt, der Wildheit und Bildung, des Glaubens und Wiſſens,
der Maſſe und des Gedankens treten neue und neue Völker in die
Schranken, und nur die Potenzen ihrer Gewalt unterſcheiden ſie.
Schon niſtet Aſien nah am Herzen Europas, ſchon hat Europa die
Thore des hohen Aſiens erbrochen; wer kennt die Zukunft? Aber
einſt, wenn aus Abend und Morgen der letzte Kampf entſchieden
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Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833], S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/16>, abgerufen am 24.11.2024.
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