von einem halbbeladenen Erndtewagen geworfen wird, und du mitten durch zwanzig Arbeiter geschritten bist, die sich weiter nicht wundern, daß der "nachdenkende Herr" ihr Hutabnehmen nicht beachtet hat, da er nach ihrer Meinung "andächtig" ist, das heißt den Rosenkranz aus dem Gedächtnisse hersagt. -- Diese Ruhe und Eintönigkeit, die aus dem Innern hervorgehen, ver- breiten sich auch über alle Lebensverhältnisse. -- Die Todten werden mäßig betrauert, aber nie ver- gessen, und alten Leuten treten noch Thränen in die Augen, wenn sie von ihren verstorbenen Eltern reden. An den Eheschlüssen hat frühere Neigung nur selten Theil; Verwandte und achtbare Freunde empfehlen ihre Lieblinge einander und das Fürwort des Geachtetsten giebt in der Regel den Ausschlag, -- so kömmt es, daß manches Ehepaar sich vor der Copulation kaum einmal gesehen hat, und unter der französischen Regierung kam nicht selten der lächerliche Fall vor, daß Sponsen, die meilenweit hergetrabt waren, um für ihre Braut die nöthigen Scheine bei der Behörde zu lösen, weder Vor- noch Zunamen derjenigen anzugeben wußten, die sie in der nächsten Woche zu heirathen gedachten, und sich höchlich wunderten, daß die Bezeichnung als Magd oder Nichte irgend eines angesehenen Gemeindegliedes nicht hinreichend gefunden wurde. -- Daß unter
von einem halbbeladenen Erndtewagen geworfen wird, und du mitten durch zwanzig Arbeiter geſchritten biſt, die ſich weiter nicht wundern, daß der „nachdenkende Herr“ ihr Hutabnehmen nicht beachtet hat, da er nach ihrer Meinung „andächtig“ iſt, das heißt den Roſenkranz aus dem Gedächtniſſe herſagt. — Dieſe Ruhe und Eintönigkeit, die aus dem Innern hervorgehen, ver- breiten ſich auch über alle Lebensverhältniſſe. — Die Todten werden mäßig betrauert, aber nie ver- geſſen, und alten Leuten treten noch Thränen in die Augen, wenn ſie von ihren verſtorbenen Eltern reden. An den Eheſchlüſſen hat frühere Neigung nur ſelten Theil; Verwandte und achtbare Freunde empfehlen ihre Lieblinge einander und das Fürwort des Geachtetſten giebt in der Regel den Ausſchlag, — ſo kömmt es, daß manches Ehepaar ſich vor der Copulation kaum einmal geſehen hat, und unter der franzöſiſchen Regierung kam nicht ſelten der lächerliche Fall vor, daß Sponſen, die meilenweit hergetrabt waren, um für ihre Braut die nöthigen Scheine bei der Behörde zu löſen, weder Vor- noch Zunamen derjenigen anzugeben wußten, die ſie in der nächſten Woche zu heirathen gedachten, und ſich höchlich wunderten, daß die Bezeichnung als Magd oder Nichte irgend eines angeſehenen Gemeindegliedes nicht hinreichend gefunden wurde. — Daß unter
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von einem halbbeladenen Erndtewagen geworfen
wird, und du mitten durch zwanzig Arbeiter
geſchritten biſt, die ſich weiter nicht wundern,
daß der „nachdenkende Herr“ ihr Hutabnehmen
nicht beachtet hat, da er nach ihrer Meinung
„andächtig“ iſt, das heißt den Roſenkranz aus
dem Gedächtniſſe herſagt. — Dieſe Ruhe und
Eintönigkeit, die aus dem Innern hervorgehen, ver-
breiten ſich auch über alle Lebensverhältniſſe. —
Die Todten werden mäßig betrauert, aber nie ver-
geſſen, und alten Leuten treten noch Thränen in
die Augen, wenn ſie von ihren verſtorbenen Eltern
reden. An den Eheſchlüſſen hat frühere Neigung
nur ſelten Theil; Verwandte und achtbare Freunde
empfehlen ihre Lieblinge einander und das Fürwort
des Geachtetſten giebt in der Regel den Ausſchlag, —
ſo kömmt es, daß manches Ehepaar ſich vor der
Copulation kaum einmal geſehen hat, und unter
der franzöſiſchen Regierung kam nicht ſelten der
lächerliche Fall vor, daß Sponſen, die meilenweit
hergetrabt waren, um für ihre Braut die nöthigen
Scheine bei der Behörde zu löſen, weder Vor- noch
Zunamen derjenigen anzugeben wußten, die ſie in
der nächſten Woche zu heirathen gedachten, und ſich
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schü… [mehr]
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schücking aus dem Nachlass Annette von Droste-Hülshoffs herausgegeben, enthalten mehrere Texte, die zum Teil zu Lebzeiten der Autorin bereits andernorts veröffentlicht worden waren. Beispielsweise erschien Droste-Hülshoffs Novelle "Die Judenbuche" zuerst 1842 im "Morgenblatt für gebildete Leser"; die "Westfälischen Schilderungen" erschienen 1845 in den "Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland". Einzelne Gedichte sind in Journalen und Jahrbüchern erschienen, andere wurden aus dem Nachlass erstmals in der hier digitalisierten Edition von Levin Schücking veröffentlicht (z.B. die Gedichte "Der Nachtwanderer", "Doppeltgänger" und "Halt fest!"). In den meisten Fällen handelt es sich somit nicht um Erstveröffentlichungen der Texte, wohl aber um die erste Publikation in Buchform, weshalb die Nachlassedition für das DTA herangezogen wurde.
Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/294>, abgerufen am 24.11.2024.
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