Droste-Hülshoff, Annette von: Die Judenbuche. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 51–128. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Lichtchen aus den Schneehügeln, und in jedem Hause lagen die Einwohner auf den Knieen, um den Eintritt des heiligen Christfestes mit Gebet zu erwarten, wie dies in katholischen Ländern Sitte ist, oder wenigstens damals allgemein war. Da bewegte sich von der Breder Höhe herab eine Gestalt langsam gegen das Dorf; der Wanderer schien sehr matt oder krank; er stöhnte schwer und schleppte sich äußerst mühsam durch den Schnee. An der Mitte des Hanges stand er still, lehnte sich auf seinen Krückenstab und starrte unverwandt auf die Lichtpunkte. Es war so still überall, so todt und kalt; man mußte an Irrlichter auf Kirchhöfen denken. Nun schlug es zwölf im Thurm; der letzte Schlag verdröhnte langsam, und im nächsten Hause erhob sich ein leiser Gesang, der, von Hause zu Hause schwellend, sich über das ganze Dorf zog: Ein Kindelein so löbelich Ist uns geboren heute, Von einer Jungfrau säuberlich, Deß freu'n sich alle Leute; Und wär' das Kindlein nicht gebor'n, So wären wir alle zusammen verlor'n: Das Heil ist unser Aller. O du mein liebster Jesu Christ, Der du als Mensch geboren bist, Erlös uns von der Hölle! Der Mann am Hange war in die Kniee gesunken und versuchte mit zitternder Stimme einzufallen: es Lichtchen aus den Schneehügeln, und in jedem Hause lagen die Einwohner auf den Knieen, um den Eintritt des heiligen Christfestes mit Gebet zu erwarten, wie dies in katholischen Ländern Sitte ist, oder wenigstens damals allgemein war. Da bewegte sich von der Breder Höhe herab eine Gestalt langsam gegen das Dorf; der Wanderer schien sehr matt oder krank; er stöhnte schwer und schleppte sich äußerst mühsam durch den Schnee. An der Mitte des Hanges stand er still, lehnte sich auf seinen Krückenstab und starrte unverwandt auf die Lichtpunkte. Es war so still überall, so todt und kalt; man mußte an Irrlichter auf Kirchhöfen denken. Nun schlug es zwölf im Thurm; der letzte Schlag verdröhnte langsam, und im nächsten Hause erhob sich ein leiser Gesang, der, von Hause zu Hause schwellend, sich über das ganze Dorf zog: Ein Kindelein so löbelich Ist uns geboren heute, Von einer Jungfrau säuberlich, Deß freu'n sich alle Leute; Und wär' das Kindlein nicht gebor'n, So wären wir alle zusammen verlor'n: Das Heil ist unser Aller. O du mein liebster Jesu Christ, Der du als Mensch geboren bist, Erlös uns von der Hölle! Der Mann am Hange war in die Kniee gesunken und versuchte mit zitternder Stimme einzufallen: es <TEI> <text> <body> <div type="chapter"> <p><pb facs="#f0067"/> Lichtchen aus den Schneehügeln, und in jedem Hause lagen die Einwohner auf den Knieen, um den Eintritt des heiligen Christfestes mit Gebet zu erwarten, wie dies in katholischen Ländern Sitte ist, oder wenigstens damals allgemein war. Da bewegte sich von der Breder Höhe herab eine Gestalt langsam gegen das Dorf; der Wanderer schien sehr matt oder krank; er stöhnte schwer und schleppte sich äußerst mühsam durch den Schnee.</p><lb/> <p>An der Mitte des Hanges stand er still, lehnte sich auf seinen Krückenstab und starrte unverwandt auf die Lichtpunkte. Es war so still überall, so todt und kalt; man mußte an Irrlichter auf Kirchhöfen denken. Nun schlug es zwölf im Thurm; der letzte Schlag verdröhnte langsam, und im nächsten Hause erhob sich ein leiser Gesang, der, von Hause zu Hause schwellend, sich über das ganze Dorf zog:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Ein Kindelein so löbelich</l><lb/> <l>Ist uns geboren heute,</l><lb/> <l>Von einer Jungfrau säuberlich,</l><lb/> <l>Deß freu'n sich alle Leute;</l><lb/> <l>Und wär' das Kindlein nicht gebor'n,</l><lb/> <l>So wären wir alle zusammen verlor'n:</l><lb/> <l>Das Heil ist unser Aller.</l><lb/> <l>O du mein liebster Jesu Christ,</l><lb/> <l>Der du als Mensch geboren bist,</l><lb/> <l>Erlös uns von der Hölle!</l><lb/> </lg> <p>Der Mann am Hange war in die Kniee gesunken und versuchte mit zitternder Stimme einzufallen: es<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0067]
Lichtchen aus den Schneehügeln, und in jedem Hause lagen die Einwohner auf den Knieen, um den Eintritt des heiligen Christfestes mit Gebet zu erwarten, wie dies in katholischen Ländern Sitte ist, oder wenigstens damals allgemein war. Da bewegte sich von der Breder Höhe herab eine Gestalt langsam gegen das Dorf; der Wanderer schien sehr matt oder krank; er stöhnte schwer und schleppte sich äußerst mühsam durch den Schnee.
An der Mitte des Hanges stand er still, lehnte sich auf seinen Krückenstab und starrte unverwandt auf die Lichtpunkte. Es war so still überall, so todt und kalt; man mußte an Irrlichter auf Kirchhöfen denken. Nun schlug es zwölf im Thurm; der letzte Schlag verdröhnte langsam, und im nächsten Hause erhob sich ein leiser Gesang, der, von Hause zu Hause schwellend, sich über das ganze Dorf zog:
Ein Kindelein so löbelich
Ist uns geboren heute,
Von einer Jungfrau säuberlich,
Deß freu'n sich alle Leute;
Und wär' das Kindlein nicht gebor'n,
So wären wir alle zusammen verlor'n:
Das Heil ist unser Aller.
O du mein liebster Jesu Christ,
Der du als Mensch geboren bist,
Erlös uns von der Hölle!
Der Mann am Hange war in die Kniee gesunken und versuchte mit zitternder Stimme einzufallen: es
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