Vor Zeiten, ich war schon groß genug, Hatt' die Kinderschuhe vertreten, Nicht alt war ich, doch eben im Zug' Zu Sankt Andreas zu beten, Da bin ich gewandelt, Tag für Tag, Das Feld entlang mit der Kathi; Ob etwas Liebes im Wege lag? Tempi passati -- passati!
Und in dem Haideland stand ein Baum, Eine schlanke schmächtige Erle, Da saßen wir oft in wachendem Traum, Und horchten dem Schlage der Merle; Die hatte ihr struppiges Nest gebaut, Grad in der schwankenden Krone, Und hat so keck hernieder geschaut Wie ein Gräflein vom winzigen Throne.
Wir kosten so viel und gingen so lang', Daß drüber der Sommer verflossen; Dann hieß es: "Scheiden, o weh wie bang!" Viel Thränen wurden vergossen; Die Hände hielten wir stumm gepreßt, Da zog ich aus flatternder Binde Eine blanke Nadel, und drückte fest Sie, fest in die saftige Rinde;
Die Nadel im Baume.
Vor Zeiten, ich war ſchon groß genug, Hatt' die Kinderſchuhe vertreten, Nicht alt war ich, doch eben im Zug' Zu Sankt Andreas zu beten, Da bin ich gewandelt, Tag für Tag, Das Feld entlang mit der Kathi; Ob etwas Liebes im Wege lag? Tempi passati — passati!
Und in dem Haideland ſtand ein Baum, Eine ſchlanke ſchmächtige Erle, Da ſaßen wir oft in wachendem Traum, Und horchten dem Schlage der Merle; Die hatte ihr ſtruppiges Neſt gebaut, Grad in der ſchwankenden Krone, Und hat ſo keck hernieder geſchaut Wie ein Gräflein vom winzigen Throne.
Wir kosten ſo viel und gingen ſo lang', Daß drüber der Sommer verfloſſen; Dann hieß es: „Scheiden, o weh wie bang!“ Viel Thränen wurden vergoſſen; Die Hände hielten wir ſtumm gepreßt, Da zog ich aus flatternder Binde Eine blanke Nadel, und drückte feſt Sie, feſt in die ſaftige Rinde;
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Die Nadel im Baume.
Vor Zeiten, ich war ſchon groß genug,
Hatt' die Kinderſchuhe vertreten,
Nicht alt war ich, doch eben im Zug'
Zu Sankt Andreas zu beten,
Da bin ich gewandelt, Tag für Tag,
Das Feld entlang mit der Kathi;
Ob etwas Liebes im Wege lag?
Tempi passati — passati!
Und in dem Haideland ſtand ein Baum,
Eine ſchlanke ſchmächtige Erle,
Da ſaßen wir oft in wachendem Traum,
Und horchten dem Schlage der Merle;
Die hatte ihr ſtruppiges Neſt gebaut,
Grad in der ſchwankenden Krone,
Und hat ſo keck hernieder geſchaut
Wie ein Gräflein vom winzigen Throne.
Wir kosten ſo viel und gingen ſo lang',
Daß drüber der Sommer verfloſſen;
Dann hieß es: „Scheiden, o weh wie bang!“
Viel Thränen wurden vergoſſen;
Die Hände hielten wir ſtumm gepreßt,
Da zog ich aus flatternder Binde
Eine blanke Nadel, und drückte feſt
Sie, feſt in die ſaftige Rinde;
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Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/235>, abgerufen am 22.12.2024.
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