Dincklage, Emmy von: Der Striethast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [180]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.besitz verwachsen waren, Namen, die jeden ihrer Buchstaben mit einigen tausend holländischen Gulden zu decken können. Eine dieser "Besten", die Erbin von Twistbrink, schreitet dem Zuge ihrer Dorfnachbarn groß und stattlich voran, sie hat das schwarze Laken (Tuch-)Kleid um die Hüften geschürzt, und ihr feuerrother Bojerock folgt in gleichmäßigen Schwingungen ihrer sichern, actrechten Bewegung. Niemand erlaubte sich indeß, sie scherzend anzureden, kein begünstigter Freier hatte das Recht, ihr heute den verhängnißvollen Honigkuchen, den Hilke-Maker (Heiraths-Macher), als zarte Liebesgabe anzubieten; Anntrin war ein ernstes, "sinniges" Mädchen, dessen verschlossenes Wesen sich schweigend Zurückhaltung von Anderen erzwang. Obwohl bereits fünfundzwanzig Jahre alt, hatte Anntrin nie einen Bewerber begünstigt, und diese Thatsache zeugte von großem Standesbewußtsein. Ein armes Mädchen, des geringen Mannes Kind, muß sich bei Zeiten versorgen, die Erbin aber hat zu wählen, je länger sie "kührt", desto stolzer beweis't sie: Ich habe es nicht nöthig, mich nach irgend etwas in der Welt umzusehen! -- Was unter dem breiten Goldgeschmeide, das dann und wann auf Anntrin's Brust im Mondenstrahl aufleuchtete, lebte oder liebte -- wer konnte es wissen? Ein Wagengerassel, das von dem holperigen Pflaster des Dorfes Wahne aus mit dem feuchten Nachtwinde weit über die Ebene zog, fesselte alsbald die Gedanken der Wandernden. Das ist Rolf Evert! besitz verwachsen waren, Namen, die jeden ihrer Buchstaben mit einigen tausend holländischen Gulden zu decken können. Eine dieser „Besten“, die Erbin von Twistbrink, schreitet dem Zuge ihrer Dorfnachbarn groß und stattlich voran, sie hat das schwarze Laken (Tuch-)Kleid um die Hüften geschürzt, und ihr feuerrother Bojerock folgt in gleichmäßigen Schwingungen ihrer sichern, actrechten Bewegung. Niemand erlaubte sich indeß, sie scherzend anzureden, kein begünstigter Freier hatte das Recht, ihr heute den verhängnißvollen Honigkuchen, den Hilke-Maker (Heiraths-Macher), als zarte Liebesgabe anzubieten; Anntrin war ein ernstes, „sinniges“ Mädchen, dessen verschlossenes Wesen sich schweigend Zurückhaltung von Anderen erzwang. Obwohl bereits fünfundzwanzig Jahre alt, hatte Anntrin nie einen Bewerber begünstigt, und diese Thatsache zeugte von großem Standesbewußtsein. Ein armes Mädchen, des geringen Mannes Kind, muß sich bei Zeiten versorgen, die Erbin aber hat zu wählen, je länger sie „kührt“, desto stolzer beweis't sie: Ich habe es nicht nöthig, mich nach irgend etwas in der Welt umzusehen! — Was unter dem breiten Goldgeschmeide, das dann und wann auf Anntrin's Brust im Mondenstrahl aufleuchtete, lebte oder liebte — wer konnte es wissen? Ein Wagengerassel, das von dem holperigen Pflaster des Dorfes Wahne aus mit dem feuchten Nachtwinde weit über die Ebene zog, fesselte alsbald die Gedanken der Wandernden. Das ist Rolf Evert! <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0009"/> besitz verwachsen waren, Namen, die jeden ihrer Buchstaben mit einigen tausend holländischen Gulden zu decken können. Eine dieser „Besten“, die Erbin von Twistbrink, schreitet dem Zuge ihrer Dorfnachbarn groß und stattlich voran, sie hat das schwarze Laken (Tuch-)Kleid um die Hüften geschürzt, und ihr feuerrother Bojerock folgt in gleichmäßigen Schwingungen ihrer sichern, actrechten Bewegung. Niemand erlaubte sich indeß, sie scherzend anzureden, kein begünstigter Freier hatte das Recht, ihr heute den verhängnißvollen Honigkuchen, den Hilke-Maker (Heiraths-Macher), als zarte Liebesgabe anzubieten; Anntrin war ein ernstes, „sinniges“ Mädchen, dessen verschlossenes Wesen sich schweigend Zurückhaltung von Anderen erzwang. Obwohl bereits fünfundzwanzig Jahre alt, hatte Anntrin nie einen Bewerber begünstigt, und diese Thatsache zeugte von großem Standesbewußtsein. Ein armes Mädchen, des geringen Mannes Kind, muß sich bei Zeiten versorgen, die Erbin aber hat zu wählen, je länger sie „kührt“, desto stolzer beweis't sie: Ich habe es nicht nöthig, mich nach irgend etwas in der Welt umzusehen! — Was unter dem breiten Goldgeschmeide, das dann und wann auf Anntrin's Brust im Mondenstrahl aufleuchtete, lebte oder liebte — wer konnte es wissen? Ein Wagengerassel, das von dem holperigen Pflaster des Dorfes Wahne aus mit dem feuchten Nachtwinde weit über die Ebene zog, fesselte alsbald die Gedanken der Wandernden. Das ist Rolf Evert!<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0009]
besitz verwachsen waren, Namen, die jeden ihrer Buchstaben mit einigen tausend holländischen Gulden zu decken können. Eine dieser „Besten“, die Erbin von Twistbrink, schreitet dem Zuge ihrer Dorfnachbarn groß und stattlich voran, sie hat das schwarze Laken (Tuch-)Kleid um die Hüften geschürzt, und ihr feuerrother Bojerock folgt in gleichmäßigen Schwingungen ihrer sichern, actrechten Bewegung. Niemand erlaubte sich indeß, sie scherzend anzureden, kein begünstigter Freier hatte das Recht, ihr heute den verhängnißvollen Honigkuchen, den Hilke-Maker (Heiraths-Macher), als zarte Liebesgabe anzubieten; Anntrin war ein ernstes, „sinniges“ Mädchen, dessen verschlossenes Wesen sich schweigend Zurückhaltung von Anderen erzwang. Obwohl bereits fünfundzwanzig Jahre alt, hatte Anntrin nie einen Bewerber begünstigt, und diese Thatsache zeugte von großem Standesbewußtsein. Ein armes Mädchen, des geringen Mannes Kind, muß sich bei Zeiten versorgen, die Erbin aber hat zu wählen, je länger sie „kührt“, desto stolzer beweis't sie: Ich habe es nicht nöthig, mich nach irgend etwas in der Welt umzusehen! — Was unter dem breiten Goldgeschmeide, das dann und wann auf Anntrin's Brust im Mondenstrahl aufleuchtete, lebte oder liebte — wer konnte es wissen? Ein Wagengerassel, das von dem holperigen Pflaster des Dorfes Wahne aus mit dem feuchten Nachtwinde weit über die Ebene zog, fesselte alsbald die Gedanken der Wandernden. Das ist Rolf Evert!
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/dincklage_striethast_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/dincklage_striethast_1910/9 |
Zitationshilfe: | Dincklage, Emmy von: Der Striethast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [180]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dincklage_striethast_1910/9>, abgerufen am 22.07.2024. |