Dincklage, Emmy von: Der Striethast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [180]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.das Ihr mir thatet, gedenken, wenn Ihr mir alle meine Lebenshoffnungen genommen habt? Stine, besorgt, daß ihre hocherregte Tochter sich gegen die Tante hinreißen lassen möchte, goß das Buchweizenmengsel in die Pfanne und fragte zaghaft: Kann es denn gar nicht anders gehen, Sanne Möhe? Nein, ich will es nicht anders! Was ist denn nun aber ein Striethast? -- Er ist eben ein Stück Symbolik, eine Volkspoesie, die wir glauben belächeln zu dürfen, weil wir uns einbilden, subtilere Begriffe und eine zartere Auffassungsweise zu besitzen. Die Spanierin öffnet ihren Fächer, wenn sie einen Bewerber annimmt, und schließt den Fächer, wenn sie die Huldigungen zurückweist. Die Orientalin sagt durch eine bestimmte Blüte: ich liebe dich! -- durch eine andere: du bist mir verhaßt! -- Auf Rügen hängt die Heirathslustige eine Schürze vor die Thür -- die Münsterländerin dagegen hat ihren Striethast, ihren Speckselam! Ist die Speckscheibe ganz, so wird der Bewerber angenommen; ist sie eingekerbt, so ist derselbe abgewiesen! -- Früher scheint die Striethastverständigung in Heirathssachen eine ziemlich weitverbreitete gewesen zu sein, die Spur dieser Sitte läßt sich bis an die Nordsee verfolgen und lebt noch hier und da in verschiedenen Variationen; in voller Blüte aber besteht sie fort in der Niedergrafschaft Bentheim, die durchweg eine Schatzkammer alter Ueberlieferungen ist. Das Wort das Ihr mir thatet, gedenken, wenn Ihr mir alle meine Lebenshoffnungen genommen habt? Stine, besorgt, daß ihre hocherregte Tochter sich gegen die Tante hinreißen lassen möchte, goß das Buchweizenmengsel in die Pfanne und fragte zaghaft: Kann es denn gar nicht anders gehen, Sanne Möhe? Nein, ich will es nicht anders! Was ist denn nun aber ein Striethast? — Er ist eben ein Stück Symbolik, eine Volkspoesie, die wir glauben belächeln zu dürfen, weil wir uns einbilden, subtilere Begriffe und eine zartere Auffassungsweise zu besitzen. Die Spanierin öffnet ihren Fächer, wenn sie einen Bewerber annimmt, und schließt den Fächer, wenn sie die Huldigungen zurückweist. Die Orientalin sagt durch eine bestimmte Blüte: ich liebe dich! — durch eine andere: du bist mir verhaßt! — Auf Rügen hängt die Heirathslustige eine Schürze vor die Thür — die Münsterländerin dagegen hat ihren Striethast, ihren Speckselam! Ist die Speckscheibe ganz, so wird der Bewerber angenommen; ist sie eingekerbt, so ist derselbe abgewiesen! — Früher scheint die Striethastverständigung in Heirathssachen eine ziemlich weitverbreitete gewesen zu sein, die Spur dieser Sitte läßt sich bis an die Nordsee verfolgen und lebt noch hier und da in verschiedenen Variationen; in voller Blüte aber besteht sie fort in der Niedergrafschaft Bentheim, die durchweg eine Schatzkammer alter Ueberlieferungen ist. Das Wort <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0030"/> das Ihr mir thatet, gedenken, wenn Ihr mir alle meine Lebenshoffnungen genommen habt?</p><lb/> <p>Stine, besorgt, daß ihre hocherregte Tochter sich gegen die Tante hinreißen lassen möchte, goß das Buchweizenmengsel in die Pfanne und fragte zaghaft: Kann es denn gar nicht anders gehen, Sanne Möhe?</p><lb/> <p>Nein, ich will es nicht anders!</p><lb/> <p>Was ist denn nun aber ein Striethast? — Er ist eben ein Stück Symbolik, eine Volkspoesie, die wir glauben belächeln zu dürfen, weil wir uns einbilden, subtilere Begriffe und eine zartere Auffassungsweise zu besitzen. Die Spanierin öffnet ihren Fächer, wenn sie einen Bewerber annimmt, und schließt den Fächer, wenn sie die Huldigungen zurückweist. Die Orientalin sagt durch eine bestimmte Blüte: ich liebe dich! — durch eine andere: du bist mir verhaßt! — Auf Rügen hängt die Heirathslustige eine Schürze vor die Thür — die Münsterländerin dagegen hat ihren Striethast, ihren Speckselam! Ist die Speckscheibe ganz, so wird der Bewerber angenommen; ist sie eingekerbt, so ist derselbe abgewiesen! — Früher scheint die Striethastverständigung in Heirathssachen eine ziemlich weitverbreitete gewesen zu sein, die Spur dieser Sitte läßt sich bis an die Nordsee verfolgen und lebt noch hier und da in verschiedenen Variationen; in voller Blüte aber besteht sie fort in der Niedergrafschaft Bentheim, die durchweg eine Schatzkammer alter Ueberlieferungen ist. Das Wort<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0030]
das Ihr mir thatet, gedenken, wenn Ihr mir alle meine Lebenshoffnungen genommen habt?
Stine, besorgt, daß ihre hocherregte Tochter sich gegen die Tante hinreißen lassen möchte, goß das Buchweizenmengsel in die Pfanne und fragte zaghaft: Kann es denn gar nicht anders gehen, Sanne Möhe?
Nein, ich will es nicht anders!
Was ist denn nun aber ein Striethast? — Er ist eben ein Stück Symbolik, eine Volkspoesie, die wir glauben belächeln zu dürfen, weil wir uns einbilden, subtilere Begriffe und eine zartere Auffassungsweise zu besitzen. Die Spanierin öffnet ihren Fächer, wenn sie einen Bewerber annimmt, und schließt den Fächer, wenn sie die Huldigungen zurückweist. Die Orientalin sagt durch eine bestimmte Blüte: ich liebe dich! — durch eine andere: du bist mir verhaßt! — Auf Rügen hängt die Heirathslustige eine Schürze vor die Thür — die Münsterländerin dagegen hat ihren Striethast, ihren Speckselam! Ist die Speckscheibe ganz, so wird der Bewerber angenommen; ist sie eingekerbt, so ist derselbe abgewiesen! — Früher scheint die Striethastverständigung in Heirathssachen eine ziemlich weitverbreitete gewesen zu sein, die Spur dieser Sitte läßt sich bis an die Nordsee verfolgen und lebt noch hier und da in verschiedenen Variationen; in voller Blüte aber besteht sie fort in der Niedergrafschaft Bentheim, die durchweg eine Schatzkammer alter Ueberlieferungen ist. Das Wort
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Zitationshilfe: | Dincklage, Emmy von: Der Striethast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [180]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dincklage_striethast_1910/30>, abgerufen am 16.02.2025. |