Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_381.001 Wie anders verläuft dieser Fortgang von den Unlustgefühlen pdi_381.012 pdi_381.001 Wie anders verläuft dieser Fortgang von den Unlustgefühlen pdi_381.012 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0083" n="381"/><lb n="pdi_381.001"/> umgebenden Mächten Entfernung des Schweren und Drohenden <lb n="pdi_381.002"/> oder Erreichung des Erwünschten zu erwirken, also eine äussere <lb n="pdi_381.003"/> Willenshandlung; darin aber liegt eben die Entwicklung der <lb n="pdi_381.004"/> Religion zum Höheren, dass dann im Gemüth selber, in den <lb n="pdi_381.005"/> sittlichen Kräften, in der inneren Willenshandlung der Umkehr <lb n="pdi_381.006"/> die Versöhnung mit dem Unbezwinglichen gesucht wird. Daher <lb n="pdi_381.007"/> muss der Aberglaube Platz machen, soll wahre innerliche Religiosität <lb n="pdi_381.008"/> sich mächtig entfalten. Durch das tiefste Ringen des <lb n="pdi_381.009"/> Willens werden so beständig die aufgedrungenen Unlustempfindungen <lb n="pdi_381.010"/> der Gleichgewichtslage oder Lust entgegengeführt.</p> <lb n="pdi_381.011"/> <p> Wie anders verläuft dieser Fortgang von den Unlustgefühlen <lb n="pdi_381.012"/> aus in dem ästhetischen Schaffen, im ästhetischen Eindruck! <lb n="pdi_381.013"/> Hier, wo sich Alles in der Phantasie abspielt, hindert nichts, <lb n="pdi_381.014"/> von der Unlust in die Gleichgewichtslage frei überzugehen, wie <lb n="pdi_381.015"/> alle Disharmonien im Musikstück in Harmonien aufgelöst werden. <lb n="pdi_381.016"/> Aus dem Princip der Wahrhaftigkeit folgt, dass die Dichtung, <lb n="pdi_381.017"/> als Abbild der Welt, den Schmerz nicht entbehren kann, ja dass <lb n="pdi_381.018"/> eben die höchsten Lebensäusserungen der Menschennatur, ihre <lb n="pdi_381.019"/> Verklärung, nur im Leid sichtbar gemacht werden kann. Hierin <lb n="pdi_381.020"/> ist doch schliesslich das Recht der Tragödie gegründet, dass nur <lb n="pdi_381.021"/> in ihr die höchste Macht und Verklärung des Willens zum Ausdruck <lb n="pdi_381.022"/> gelangen kann. Aber aus der dargestellten Tendenz der <lb n="pdi_381.023"/> Unlustzustände, in die Gleichgewichtslage oder in Lust überzugehen, <lb n="pdi_381.024"/> ergiebt sich nun das ästhetische <hi rendition="#g">Princip</hi> der <hi rendition="#g">Versöhnung,</hi> <lb n="pdi_381.025"/> nach welchem jedes Dichtwerk, das nicht nur vorübergehende <lb n="pdi_381.026"/> Empfindungen ausdrücken, sondern eine andauernde Befriedigung <lb n="pdi_381.027"/> hervorbringen will, in der Gleichgewichtslage oder in einem Lustzustande, <lb n="pdi_381.028"/> jedenfalls also in einem versöhnenden Endzustande <lb n="pdi_381.029"/> schliessen muss, läge auch dieser Endzustand nur in dem Gedanken, <lb n="pdi_381.030"/> der über das Leben erhebt. Selbst das Schema des metaphysischen <lb n="pdi_381.031"/> Mythos, wie Plotin oder Spinoza oder Schopenhauer ihn <lb n="pdi_381.032"/> gedichtet haben, zeigt diese Rückkehr in den Frieden und die <lb n="pdi_381.033"/> versöhnte Einheit. Das lyrische Gedicht, sofern es nicht Einen <lb n="pdi_381.034"/> Ton erklingen, sondern einen inneren Vorgang sich ausleben <lb n="pdi_381.035"/> lässt, strebt einer solchen Gleichgewichtslage zu, am schönsten <lb n="pdi_381.036"/> das Goethes. Von der Tragödie Shakespeares ist oft genug </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [381/0083]
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umgebenden Mächten Entfernung des Schweren und Drohenden pdi_381.002
oder Erreichung des Erwünschten zu erwirken, also eine äussere pdi_381.003
Willenshandlung; darin aber liegt eben die Entwicklung der pdi_381.004
Religion zum Höheren, dass dann im Gemüth selber, in den pdi_381.005
sittlichen Kräften, in der inneren Willenshandlung der Umkehr pdi_381.006
die Versöhnung mit dem Unbezwinglichen gesucht wird. Daher pdi_381.007
muss der Aberglaube Platz machen, soll wahre innerliche Religiosität pdi_381.008
sich mächtig entfalten. Durch das tiefste Ringen des pdi_381.009
Willens werden so beständig die aufgedrungenen Unlustempfindungen pdi_381.010
der Gleichgewichtslage oder Lust entgegengeführt.
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Wie anders verläuft dieser Fortgang von den Unlustgefühlen pdi_381.012
aus in dem ästhetischen Schaffen, im ästhetischen Eindruck! pdi_381.013
Hier, wo sich Alles in der Phantasie abspielt, hindert nichts, pdi_381.014
von der Unlust in die Gleichgewichtslage frei überzugehen, wie pdi_381.015
alle Disharmonien im Musikstück in Harmonien aufgelöst werden. pdi_381.016
Aus dem Princip der Wahrhaftigkeit folgt, dass die Dichtung, pdi_381.017
als Abbild der Welt, den Schmerz nicht entbehren kann, ja dass pdi_381.018
eben die höchsten Lebensäusserungen der Menschennatur, ihre pdi_381.019
Verklärung, nur im Leid sichtbar gemacht werden kann. Hierin pdi_381.020
ist doch schliesslich das Recht der Tragödie gegründet, dass nur pdi_381.021
in ihr die höchste Macht und Verklärung des Willens zum Ausdruck pdi_381.022
gelangen kann. Aber aus der dargestellten Tendenz der pdi_381.023
Unlustzustände, in die Gleichgewichtslage oder in Lust überzugehen, pdi_381.024
ergiebt sich nun das ästhetische Princip der Versöhnung, pdi_381.025
nach welchem jedes Dichtwerk, das nicht nur vorübergehende pdi_381.026
Empfindungen ausdrücken, sondern eine andauernde Befriedigung pdi_381.027
hervorbringen will, in der Gleichgewichtslage oder in einem Lustzustande, pdi_381.028
jedenfalls also in einem versöhnenden Endzustande pdi_381.029
schliessen muss, läge auch dieser Endzustand nur in dem Gedanken, pdi_381.030
der über das Leben erhebt. Selbst das Schema des metaphysischen pdi_381.031
Mythos, wie Plotin oder Spinoza oder Schopenhauer ihn pdi_381.032
gedichtet haben, zeigt diese Rückkehr in den Frieden und die pdi_381.033
versöhnte Einheit. Das lyrische Gedicht, sofern es nicht Einen pdi_381.034
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lässt, strebt einer solchen Gleichgewichtslage zu, am schönsten pdi_381.036
das Goethes. Von der Tragödie Shakespeares ist oft genug
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