Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_370.001 Wenn das Mannigfache dieser elementaren Gefühle in der pdi_370.011 pdi_370.001 Wenn das Mannigfache dieser elementaren Gefühle in der pdi_370.011 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0072" n="370"/><lb n="pdi_370.001"/> Grunde gelegt. Damals kam seine Bedeutung für das Kunstwerk <lb n="pdi_370.002"/> durch die in ihm enthaltenen Formeln vollständig, obwohl <lb n="pdi_370.003"/> einseitig zum Bewusstsein. Man versteht aus dem Geiste dieser <lb n="pdi_370.004"/> Zeit das von Montesquieu formulirte Geheimniss ihrer Poesie, <lb n="pdi_370.005"/> in Einem Worte Viel zu sagen. Ein grosser Gedanke ist nach <lb n="pdi_370.006"/> ihm ein vielumfassender, der mit Einem Schlage eine Fülle von <lb n="pdi_370.007"/> Vorstellungen zum Bewusstsein bringt. Hier ist das Grosse in <lb n="pdi_370.008"/> die Form des denkenden Auffassens aufgelöst. Das war der Geist <lb n="pdi_370.009"/> der Poesie von Voltaire und Friedrich dem Grossen.</p> <lb n="pdi_370.010"/> <p> Wenn das Mannigfache dieser elementaren Gefühle in der <lb n="pdi_370.011"/> <hi rendition="#g">Form</hi> der Dichtung, welche natürlich zum Gehalt in Beziehung <lb n="pdi_370.012"/> steht, zusammen wirkt und auch das grausamste und bitterste <lb n="pdi_370.013"/> Schicksal in eine Sphäre von Wohllaut und Harmonie erhebt <lb n="pdi_370.014"/> ─ was in so manchen Versen des Homer oder Shakespeare <lb n="pdi_370.015"/> oder auch in der Prosa der Wahlverwandtschaften erfahren <lb n="pdi_370.016"/> werden mag ─: so treten wir jetzt in die Gefühlskreise ein, in <lb n="pdi_370.017"/> welchen die aus dem <hi rendition="#g">Gehalt</hi> der Dichtung stammenden ästhetischen <lb n="pdi_370.018"/> Wirkungen liegen. Der <hi rendition="#g">fünfte Gefühlskreis</hi> entsteht <lb n="pdi_370.019"/> von den einzelnen, durch das ganze Leben hindurchgreifenden <lb n="pdi_370.020"/> <hi rendition="#g">materialen Antrieben</hi> aus, deren wir in Gefühlen nach <lb n="pdi_370.021"/> ihrem ganzen Inhalt inne werden. Diese Gefühle treten hervor, <lb n="pdi_370.022"/> wenn die elementaren Triebe von dem sie umgebenden Milieu <lb n="pdi_370.023"/> oder auch von inneren Zuständen aus Hemmungen oder Förderungen <lb n="pdi_370.024"/> erfahren. Verwoben mit unseren Instincten, aus den <lb n="pdi_370.025"/> Wurzeln der sinnlichen Gefühle aufsteigend, durchziehen sie die <lb n="pdi_370.026"/> ganze moralische Welt. Aus den Tiefen des sinnlichen Gefühls <lb n="pdi_370.027"/> reichen aufwärts der Nahrungstrieb, der Trieb der sinnlichen <lb n="pdi_370.028"/> Selbsterhaltung oder Wille zu leben, der Trieb der Fortpflanzung <lb n="pdi_370.029"/> und die Liebe zur Descendenz. Diese sind die starken Federn in <lb n="pdi_370.030"/> der Uhr des Lebens, die Muskeln, welche die Fortbewegung <lb n="pdi_370.031"/> des ungeheuren Geschöpfes: Gesellschaft erwirken. Nahe an die <lb n="pdi_370.032"/> sinnliche Gewalt dieser Antriebe reicht die Macht von Triebfedern <lb n="pdi_370.033"/> heran, die einer höheren Region angehören. Was sich als <lb n="pdi_370.034"/> Selbstbewusstsein darstellt, ist, nach der practischen Seite angesehen, <lb n="pdi_370.035"/> Streben nach Erhaltung und Vervollkommnung der <lb n="pdi_370.036"/> Person sowie Selbstschätzung; dies sind nur verschiedene Seiten </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [370/0072]
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Grunde gelegt. Damals kam seine Bedeutung für das Kunstwerk pdi_370.002
durch die in ihm enthaltenen Formeln vollständig, obwohl pdi_370.003
einseitig zum Bewusstsein. Man versteht aus dem Geiste dieser pdi_370.004
Zeit das von Montesquieu formulirte Geheimniss ihrer Poesie, pdi_370.005
in Einem Worte Viel zu sagen. Ein grosser Gedanke ist nach pdi_370.006
ihm ein vielumfassender, der mit Einem Schlage eine Fülle von pdi_370.007
Vorstellungen zum Bewusstsein bringt. Hier ist das Grosse in pdi_370.008
die Form des denkenden Auffassens aufgelöst. Das war der Geist pdi_370.009
der Poesie von Voltaire und Friedrich dem Grossen.
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Wenn das Mannigfache dieser elementaren Gefühle in der pdi_370.011
Form der Dichtung, welche natürlich zum Gehalt in Beziehung pdi_370.012
steht, zusammen wirkt und auch das grausamste und bitterste pdi_370.013
Schicksal in eine Sphäre von Wohllaut und Harmonie erhebt pdi_370.014
─ was in so manchen Versen des Homer oder Shakespeare pdi_370.015
oder auch in der Prosa der Wahlverwandtschaften erfahren pdi_370.016
werden mag ─: so treten wir jetzt in die Gefühlskreise ein, in pdi_370.017
welchen die aus dem Gehalt der Dichtung stammenden ästhetischen pdi_370.018
Wirkungen liegen. Der fünfte Gefühlskreis entsteht pdi_370.019
von den einzelnen, durch das ganze Leben hindurchgreifenden pdi_370.020
materialen Antrieben aus, deren wir in Gefühlen nach pdi_370.021
ihrem ganzen Inhalt inne werden. Diese Gefühle treten hervor, pdi_370.022
wenn die elementaren Triebe von dem sie umgebenden Milieu pdi_370.023
oder auch von inneren Zuständen aus Hemmungen oder Förderungen pdi_370.024
erfahren. Verwoben mit unseren Instincten, aus den pdi_370.025
Wurzeln der sinnlichen Gefühle aufsteigend, durchziehen sie die pdi_370.026
ganze moralische Welt. Aus den Tiefen des sinnlichen Gefühls pdi_370.027
reichen aufwärts der Nahrungstrieb, der Trieb der sinnlichen pdi_370.028
Selbsterhaltung oder Wille zu leben, der Trieb der Fortpflanzung pdi_370.029
und die Liebe zur Descendenz. Diese sind die starken Federn in pdi_370.030
der Uhr des Lebens, die Muskeln, welche die Fortbewegung pdi_370.031
des ungeheuren Geschöpfes: Gesellschaft erwirken. Nahe an die pdi_370.032
sinnliche Gewalt dieser Antriebe reicht die Macht von Triebfedern pdi_370.033
heran, die einer höheren Region angehören. Was sich als pdi_370.034
Selbstbewusstsein darstellt, ist, nach der practischen Seite angesehen, pdi_370.035
Streben nach Erhaltung und Vervollkommnung der pdi_370.036
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