Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_363.001 Und zwar treten uns im wirklichen Leben die Gefühle pdi_363.017 Die Mannigfaltigkeit der Gefühle zeigt zunächst Unterschiede pdi_363.033 pdi_363.001 Und zwar treten uns im wirklichen Leben die Gefühle pdi_363.017 Die Mannigfaltigkeit der Gefühle zeigt zunächst Unterschiede pdi_363.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0065" n="363"/><lb n="pdi_363.001"/> Verhältnissen der Formen zu unseren Gefühlen entspringt die <lb n="pdi_363.002"/> Bedeutung, welche die Verhältnisse der Linien, die Vertheilung <lb n="pdi_363.003"/> von Kraft und Last und die Symmetrie im architektonischen <lb n="pdi_363.004"/> und bildlichen Aufbau haben. Aus der Wahrnehmung von <lb n="pdi_363.005"/> den Beziehungen unserer Gefühle zu dem Wechsel der <lb n="pdi_363.006"/> Stimme nach Höhe und Tiefe, Rhythmus und Stärke entsteht <lb n="pdi_363.007"/> der Aufbau der betonten Rede und der Melodie. Aus den <lb n="pdi_363.008"/> erworbenen Einsichten über die Wirkung von Charakteren, Schicksalen <lb n="pdi_363.009"/> und Handlungen auf unsere Gefühle bildet sich die ideale <lb n="pdi_363.010"/> Gestaltung der Charaktere und die Führung der Handlung. Aus <lb n="pdi_363.011"/> den geheimnissvollen Beziehungen zwischen den gefühlten Unterschieden <lb n="pdi_363.012"/> des Seelenlebens und dem Mannigfachen der Körperformen <lb n="pdi_363.013"/> erwächst das Ideal in der bildenden Kunst. So wird die <lb n="pdi_363.014"/> Analysis des Gefühls den Schlüssel für die Erklärung des künstlerischen <lb n="pdi_363.015"/> Schaffens enthalten.</p> <lb n="pdi_363.016"/> <p> Und zwar treten uns im wirklichen Leben die Gefühle <lb n="pdi_363.017"/> überall in einer sehr grossen Verwicklung gegenüber. Wie ein <lb n="pdi_363.018"/> Wahrnehmungsbild sich aus einer grossen Mannigfaltigkeit von <lb n="pdi_363.019"/> Empfindungsinhalten zusammensetzt, so ist auch ein Gefühlszustand, <lb n="pdi_363.020"/> aus elementaren Gefühlen entstanden, welche die Analysis <lb n="pdi_363.021"/> aufzusuchen hat. Ich stehe vor einem Gemälde; die einzelnen <lb n="pdi_363.022"/> Farben haben ihren Gefühlston; dann tritt das Gefühl der Farbenharmonie, <lb n="pdi_363.023"/> der Contraste in den Farben, der Schönheit in den Linien, <lb n="pdi_363.024"/> des Ausdrucks in den Personen hinzu: aus solchem Allem entsteht <lb n="pdi_363.025"/> das Gefühl, mit welchem Raphaels Schule von Athen mich ganz <lb n="pdi_363.026"/> erfüllt und befriedigt. Und zwar treten die Gefühle in Formen <lb n="pdi_363.027"/> auf, welche durch eine bestimmte Art von Zusammensetzung <lb n="pdi_363.028"/> aus Elementargefühlen gebildet sind. Solche Formen sind Freude, <lb n="pdi_363.029"/> Wehmuth, Hass. Aber diese Formen stehen untereinander in <lb n="pdi_363.030"/> keinem ersichtlichen Zweckzusammenhang und lassen sich nicht <lb n="pdi_363.031"/> in einem System ordnen.</p> <lb n="pdi_363.032"/> <p> Die Mannigfaltigkeit der Gefühle zeigt zunächst Unterschiede <lb n="pdi_363.033"/> des Erregungsgrades. Die Gefühle können in einer <lb n="pdi_363.034"/> Reihe von Intensitäten geordnet werden, die sich von einem <lb n="pdi_363.035"/> Nullpunkt der Indifferenz aus in der einen Richtung nach Intensitätsgraden <lb n="pdi_363.036"/> von Lust, Gefallen und Billigung, in der anderen </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [363/0065]
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Verhältnissen der Formen zu unseren Gefühlen entspringt die pdi_363.002
Bedeutung, welche die Verhältnisse der Linien, die Vertheilung pdi_363.003
von Kraft und Last und die Symmetrie im architektonischen pdi_363.004
und bildlichen Aufbau haben. Aus der Wahrnehmung von pdi_363.005
den Beziehungen unserer Gefühle zu dem Wechsel der pdi_363.006
Stimme nach Höhe und Tiefe, Rhythmus und Stärke entsteht pdi_363.007
der Aufbau der betonten Rede und der Melodie. Aus den pdi_363.008
erworbenen Einsichten über die Wirkung von Charakteren, Schicksalen pdi_363.009
und Handlungen auf unsere Gefühle bildet sich die ideale pdi_363.010
Gestaltung der Charaktere und die Führung der Handlung. Aus pdi_363.011
den geheimnissvollen Beziehungen zwischen den gefühlten Unterschieden pdi_363.012
des Seelenlebens und dem Mannigfachen der Körperformen pdi_363.013
erwächst das Ideal in der bildenden Kunst. So wird die pdi_363.014
Analysis des Gefühls den Schlüssel für die Erklärung des künstlerischen pdi_363.015
Schaffens enthalten.
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Und zwar treten uns im wirklichen Leben die Gefühle pdi_363.017
überall in einer sehr grossen Verwicklung gegenüber. Wie ein pdi_363.018
Wahrnehmungsbild sich aus einer grossen Mannigfaltigkeit von pdi_363.019
Empfindungsinhalten zusammensetzt, so ist auch ein Gefühlszustand, pdi_363.020
aus elementaren Gefühlen entstanden, welche die Analysis pdi_363.021
aufzusuchen hat. Ich stehe vor einem Gemälde; die einzelnen pdi_363.022
Farben haben ihren Gefühlston; dann tritt das Gefühl der Farbenharmonie, pdi_363.023
der Contraste in den Farben, der Schönheit in den Linien, pdi_363.024
des Ausdrucks in den Personen hinzu: aus solchem Allem entsteht pdi_363.025
das Gefühl, mit welchem Raphaels Schule von Athen mich ganz pdi_363.026
erfüllt und befriedigt. Und zwar treten die Gefühle in Formen pdi_363.027
auf, welche durch eine bestimmte Art von Zusammensetzung pdi_363.028
aus Elementargefühlen gebildet sind. Solche Formen sind Freude, pdi_363.029
Wehmuth, Hass. Aber diese Formen stehen untereinander in pdi_363.030
keinem ersichtlichen Zweckzusammenhang und lassen sich nicht pdi_363.031
in einem System ordnen.
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Die Mannigfaltigkeit der Gefühle zeigt zunächst Unterschiede pdi_363.033
des Erregungsgrades. Die Gefühle können in einer pdi_363.034
Reihe von Intensitäten geordnet werden, die sich von einem pdi_363.035
Nullpunkt der Indifferenz aus in der einen Richtung nach Intensitätsgraden pdi_363.036
von Lust, Gefallen und Billigung, in der anderen
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