Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_358.001 Die Bildungsprocesse des Denkens und Erkennens verlaufen pdi_358.007 1) pdi_358.032
Steinthal, Abriss der Sprachwissenschaft I 166 ff. und Lazarus, pdi_358.033 Leben der Seele I 253 ff. benutzen den Ausdruck Apperception, um die verwickelteren pdi_358.034 Bildungsprocesse überhaupt zu bezeichnen. Wundt, Physiologische pdi_358.035 Psychologie II 210 ff. bezeichnet jeden durch die innere Willenshandlung pdi_358.036 der Aufmerksamkeit geleiteten Vorgang in den Vorstellungen als Apper- pdi_359.033 ception. Da dieser Ausdruck aber in der Schule von Leibniz einen festen pdi_359.034 Sinn erhalten hatte und andere Ausdrücke für die von jenen Forschern pdi_359.035 abgegrenzten Gruppen von Vorgängen vorhanden sind, ist im obigen der ältere pdi_359.036 Sprachgebrauch beibehalten worden. pdi_358.001 Die Bildungsprocesse des Denkens und Erkennens verlaufen pdi_358.007 1) pdi_358.032
Steinthal, Abriss der Sprachwissenschaft I 166 ff. und Lazarus, pdi_358.033 Leben der Seele I 253 ff. benutzen den Ausdruck Apperception, um die verwickelteren pdi_358.034 Bildungsprocesse überhaupt zu bezeichnen. Wundt, Physiologische pdi_358.035 Psychologie II 210 ff. bezeichnet jeden durch die innere Willenshandlung pdi_358.036 der Aufmerksamkeit geleiteten Vorgang in den Vorstellungen als Apper- pdi_359.033 ception. Da dieser Ausdruck aber in der Schule von Leibniz einen festen pdi_359.034 Sinn erhalten hatte und andere Ausdrücke für die von jenen Forschern pdi_359.035 abgegrenzten Gruppen von Vorgängen vorhanden sind, ist im obigen der ältere pdi_359.036 Sprachgebrauch beibehalten worden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0060" n="358"/><lb n="pdi_358.001"/> bei diesen empirisch gegebenen Unterschieden stehen bleiben. <lb n="pdi_358.002"/> Und zwar sind diese drei Classen von Vorgängen in der Structur <lb n="pdi_358.003"/> des Seelenlebens, die eben dargestellt wurde, mit einander verknüpft. <lb n="pdi_358.004"/> Aus dieser entsteht nun die Trennung in drei grosse <lb n="pdi_358.005"/> Gebiete der Bildungsprocesse.</p> <lb n="pdi_358.006"/> <p> Die Bildungsprocesse des <hi rendition="#g">Denkens</hi> und Erkennens verlaufen <lb n="pdi_358.007"/> zunächst in den dargestellten Vorgängen. Geht man über <lb n="pdi_358.008"/> das Unterscheiden, Ineinssetzen, Beziehen, Reproduciren der Vorstellungen <lb n="pdi_358.009"/> und die Verdrängung derselben hinaus, so trifft man <lb n="pdi_358.010"/> unter diesen Bildungsvorgängen zunächst auf die Apperception. <lb n="pdi_358.011"/> Sie bildet den einfachsten Fall, in welchem der Zusammenhang <lb n="pdi_358.012"/> des Seelenlebens auf einen Einzelvorgang wirkt und von diesem <lb n="pdi_358.013"/> eine Rückwirkung empfängt. Wir verstehen unter Apperception <lb n="pdi_358.014"/> die durch die Richtung der Aufmerksamkeit vermittelte Aufnahme <lb n="pdi_358.015"/> von Erfahrungsinhalten, Sinnesempfindungen oder inneren <lb n="pdi_358.016"/> Zuständen, in den Zusammenhang des Bewusstseins. Zunächst <lb n="pdi_358.017"/> ist sie also durch ganzes oder theilweises Ineinandertreten der <lb n="pdi_358.018"/> neuen Erfahrungsinhalte und einer bereits vorhandenen Vorstellung <lb n="pdi_358.019"/> bedingt. Hierdurch wird die Aufnahme der so entstandenen <lb n="pdi_358.020"/> Wahrnehmung-Vorstellung in den Zusammenhang, in <lb n="pdi_358.021"/> welchem sich die Vorstellung schon befand, vermittelt. Und so <lb n="pdi_358.022"/> kann entweder eine Aenderung in den Erfahrungsinhalten oder <lb n="pdi_358.023"/> in dem Zusammenhang des Seelenlebens bewirkt werden. Andere <lb n="pdi_358.024"/> Bildungsprocesse werden von inneren Antrieben aus, die im Spiel <lb n="pdi_358.025"/> der Vorstellungen liegen, eingeleitet, bemächtigen sich der Wahrnehmungen <lb n="pdi_358.026"/> und gestalten sie um. Denn eben in dem beständigen <lb n="pdi_358.027"/> Wechsel äusserer Anstösse von den Wahrnehmungsinhalten <lb n="pdi_358.028"/> her und innerer Antriebe vollzieht sich die Ausarbeitung unseres <lb n="pdi_358.029"/> Seelenlebens.<note xml:id="PDI_358_1" place="foot" n="1)"><lb n="pdi_358.032"/> Steinthal, Abriss der Sprachwissenschaft I 166 ff. und Lazarus, <lb n="pdi_358.033"/> Leben der Seele I 253 ff. benutzen den Ausdruck Apperception, um die verwickelteren <lb n="pdi_358.034"/> Bildungsprocesse überhaupt zu bezeichnen. Wundt, Physiologische <lb n="pdi_358.035"/> Psychologie II 210 ff. bezeichnet jeden durch die innere Willenshandlung <lb n="pdi_358.036"/> der Aufmerksamkeit geleiteten Vorgang in den Vorstellungen als Apper- <lb n="pdi_359.033"/> ception. Da dieser Ausdruck aber in der Schule von Leibniz einen festen <lb n="pdi_359.034"/> Sinn erhalten hatte und andere Ausdrücke für die von jenen Forschern <lb n="pdi_359.035"/> abgegrenzten Gruppen von Vorgängen vorhanden sind, ist im obigen der ältere <lb n="pdi_359.036"/> Sprachgebrauch beibehalten worden.</note> Ferner finden zwischen bloss reproducirten Vorstellungen <lb n="pdi_358.030"/> Bildungsvorgänge statt. So charakterisirt ein Dichter <lb n="pdi_358.031"/> eine erfundene Gestalt durch weitere Züge, welche er der Erinnerung </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [358/0060]
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bei diesen empirisch gegebenen Unterschieden stehen bleiben. pdi_358.002
Und zwar sind diese drei Classen von Vorgängen in der Structur pdi_358.003
des Seelenlebens, die eben dargestellt wurde, mit einander verknüpft. pdi_358.004
Aus dieser entsteht nun die Trennung in drei grosse pdi_358.005
Gebiete der Bildungsprocesse.
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Die Bildungsprocesse des Denkens und Erkennens verlaufen pdi_358.007
zunächst in den dargestellten Vorgängen. Geht man über pdi_358.008
das Unterscheiden, Ineinssetzen, Beziehen, Reproduciren der Vorstellungen pdi_358.009
und die Verdrängung derselben hinaus, so trifft man pdi_358.010
unter diesen Bildungsvorgängen zunächst auf die Apperception. pdi_358.011
Sie bildet den einfachsten Fall, in welchem der Zusammenhang pdi_358.012
des Seelenlebens auf einen Einzelvorgang wirkt und von diesem pdi_358.013
eine Rückwirkung empfängt. Wir verstehen unter Apperception pdi_358.014
die durch die Richtung der Aufmerksamkeit vermittelte Aufnahme pdi_358.015
von Erfahrungsinhalten, Sinnesempfindungen oder inneren pdi_358.016
Zuständen, in den Zusammenhang des Bewusstseins. Zunächst pdi_358.017
ist sie also durch ganzes oder theilweises Ineinandertreten der pdi_358.018
neuen Erfahrungsinhalte und einer bereits vorhandenen Vorstellung pdi_358.019
bedingt. Hierdurch wird die Aufnahme der so entstandenen pdi_358.020
Wahrnehmung-Vorstellung in den Zusammenhang, in pdi_358.021
welchem sich die Vorstellung schon befand, vermittelt. Und so pdi_358.022
kann entweder eine Aenderung in den Erfahrungsinhalten oder pdi_358.023
in dem Zusammenhang des Seelenlebens bewirkt werden. Andere pdi_358.024
Bildungsprocesse werden von inneren Antrieben aus, die im Spiel pdi_358.025
der Vorstellungen liegen, eingeleitet, bemächtigen sich der Wahrnehmungen pdi_358.026
und gestalten sie um. Denn eben in dem beständigen pdi_358.027
Wechsel äusserer Anstösse von den Wahrnehmungsinhalten pdi_358.028
her und innerer Antriebe vollzieht sich die Ausarbeitung unseres pdi_358.029
Seelenlebens. 1) Ferner finden zwischen bloss reproducirten Vorstellungen pdi_358.030
Bildungsvorgänge statt. So charakterisirt ein Dichter pdi_358.031
eine erfundene Gestalt durch weitere Züge, welche er der Erinnerung
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Steinthal, Abriss der Sprachwissenschaft I 166 ff. und Lazarus, pdi_358.033
Leben der Seele I 253 ff. benutzen den Ausdruck Apperception, um die verwickelteren pdi_358.034
Bildungsprocesse überhaupt zu bezeichnen. Wundt, Physiologische pdi_358.035
Psychologie II 210 ff. bezeichnet jeden durch die innere Willenshandlung pdi_358.036
der Aufmerksamkeit geleiteten Vorgang in den Vorstellungen als Apper- pdi_359.033
ception. Da dieser Ausdruck aber in der Schule von Leibniz einen festen pdi_359.034
Sinn erhalten hatte und andere Ausdrücke für die von jenen Forschern pdi_359.035
abgegrenzten Gruppen von Vorgängen vorhanden sind, ist im obigen der ältere pdi_359.036
Sprachgebrauch beibehalten worden.
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Zitationshilfe: | Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/60>, abgerufen am 17.02.2025. |