Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_350.001 4. Die Einbildungskraft des Dichters in ihrer Verwandtschaft pdi_350.002 pdi_350.005mit dem Traum, dem Wahnsinn und pdi_350.003 anderen Zuständen, die von der Norm des wachen pdi_350.004 Lebens abweichen. Zunächst müssen wir diese Vorgänge, in denen eine Metamorphose pdi_350.006 pdi_350.012 Es scheint zu den stehenden Sätzen der alten Poetik gehört pdi_350.013 pdi_350.001 4. Die Einbildungskraft des Dichters in ihrer Verwandtschaft pdi_350.002 pdi_350.005mit dem Traum, dem Wahnsinn und pdi_350.003 anderen Zuständen, die von der Norm des wachen pdi_350.004 Lebens abweichen. Zunächst müssen wir diese Vorgänge, in denen eine Metamorphose pdi_350.006 pdi_350.012 Es scheint zu den stehenden Sätzen der alten Poetik gehört pdi_350.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0052" n="350"/> </div> <div n="2"> <lb n="pdi_350.001"/> <head> <hi rendition="#c">4. <hi rendition="#g">Die Einbildungskraft des Dichters in ihrer Verwandtschaft <lb n="pdi_350.002"/> mit dem Traum, dem Wahnsinn und <lb n="pdi_350.003"/> anderen Zuständen, die von der Norm des wachen <lb n="pdi_350.004"/> Lebens abweichen.</hi></hi> </head> <lb n="pdi_350.005"/> <p> Zunächst müssen wir diese Vorgänge, in denen eine Metamorphose <lb n="pdi_350.006"/> des Wirklichen sich vollzieht, beobachten, beschreiben, <lb n="pdi_350.007"/> ihre Aehnlichkeit mit den nächstverwandten Vorgängen und die <lb n="pdi_350.008"/> Unterschiede von denselben auffassen. Diese nächstverwandten <lb n="pdi_350.009"/> Vorgänge aber treten im Traum, im Wahnsinn auf, überhaupt <lb n="pdi_350.010"/> in Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen.</p> <lb n="pdi_350.011"/> <lb n="pdi_350.012"/> <p> Es scheint zu den stehenden Sätzen der alten Poetik gehört <lb n="pdi_350.013"/> zu haben, dass das dichterische Schaffen eine Art von Verrückung <lb n="pdi_350.014"/> sei; Demokrit, Plato, Aristoteles, Horaz sprechen das <lb n="pdi_350.015"/> übereinstimmend aus. Von den Romantikern ist dann die Verwandtschaft <lb n="pdi_350.016"/> des Genies mit Wahnsinn, Traum und jeder Art von <lb n="pdi_350.017"/> ekstatischem Zustande mehrfach hervorgehoben worden, und <lb n="pdi_350.018"/> Schopenhauer hat auch hier eine romantische Idee mit naturwissenschaftlichen <lb n="pdi_350.019"/> Belegen ausgestattet. Er giebt eine vollständige <lb n="pdi_350.020"/> Personalbeschreibung des Genies; dieselbe ist freilich <lb n="pdi_350.021"/> sehr subjectiv; er hat sich selber dabei als Modell benutzt. <lb n="pdi_350.022"/> Hoher, breiter Schädel, energischer Herzschlag, kleine Statur, <lb n="pdi_350.023"/> kurzer Hals ─ diese Merkmale findet er besonders günstig. <lb n="pdi_350.024"/> Selbst einen guten Magen muss nach ihm das Genie haben. <lb n="pdi_350.025"/> Indem die durch ein übermächtiges Cerebralleben bedingte sehr <lb n="pdi_350.026"/> grosse Intelligenz in dem Genie sich von dem Dienste des Willens <lb n="pdi_350.027"/> loslöst, entsteht die abnorme Beschaffenheit desselben. Insbesondere <lb n="pdi_350.028"/> erhebt es sich über die Zeit und die in ihr gegebenen <lb n="pdi_350.029"/> Relationen, und so entstehen Erscheinungen, die dem Wahnsinn <lb n="pdi_350.030"/> verwandt sind, da dieser nach ihm eine Erkrankung des Gedächtnisses <lb n="pdi_350.031"/> ist und daher ebenfalls den Zusammenhang des Zeitverlaufs <lb n="pdi_350.032"/> aufhebt. Dazu kommt gesteigerte Reizbarkeit des Gehirnlebens, <lb n="pdi_350.033"/> völlige Fremdheit gegenüber der Denkart der Welt <lb n="pdi_350.034"/> und der Durchschnittsmenschen. So entsteht die melancholische <lb n="pdi_350.035"/> Einsamkeit des Genies. Diese trübselige Verherrlichung des </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [350/0052]
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4. Die Einbildungskraft des Dichters in ihrer Verwandtschaft pdi_350.002
mit dem Traum, dem Wahnsinn und pdi_350.003
anderen Zuständen, die von der Norm des wachen pdi_350.004
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Zunächst müssen wir diese Vorgänge, in denen eine Metamorphose pdi_350.006
des Wirklichen sich vollzieht, beobachten, beschreiben, pdi_350.007
ihre Aehnlichkeit mit den nächstverwandten Vorgängen und die pdi_350.008
Unterschiede von denselben auffassen. Diese nächstverwandten pdi_350.009
Vorgänge aber treten im Traum, im Wahnsinn auf, überhaupt pdi_350.010
in Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen.
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Es scheint zu den stehenden Sätzen der alten Poetik gehört pdi_350.013
zu haben, dass das dichterische Schaffen eine Art von Verrückung pdi_350.014
sei; Demokrit, Plato, Aristoteles, Horaz sprechen das pdi_350.015
übereinstimmend aus. Von den Romantikern ist dann die Verwandtschaft pdi_350.016
des Genies mit Wahnsinn, Traum und jeder Art von pdi_350.017
ekstatischem Zustande mehrfach hervorgehoben worden, und pdi_350.018
Schopenhauer hat auch hier eine romantische Idee mit naturwissenschaftlichen pdi_350.019
Belegen ausgestattet. Er giebt eine vollständige pdi_350.020
Personalbeschreibung des Genies; dieselbe ist freilich pdi_350.021
sehr subjectiv; er hat sich selber dabei als Modell benutzt. pdi_350.022
Hoher, breiter Schädel, energischer Herzschlag, kleine Statur, pdi_350.023
kurzer Hals ─ diese Merkmale findet er besonders günstig. pdi_350.024
Selbst einen guten Magen muss nach ihm das Genie haben. pdi_350.025
Indem die durch ein übermächtiges Cerebralleben bedingte sehr pdi_350.026
grosse Intelligenz in dem Genie sich von dem Dienste des Willens pdi_350.027
loslöst, entsteht die abnorme Beschaffenheit desselben. Insbesondere pdi_350.028
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Relationen, und so entstehen Erscheinungen, die dem Wahnsinn pdi_350.030
verwandt sind, da dieser nach ihm eine Erkrankung des Gedächtnisses pdi_350.031
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aufhebt. Dazu kommt gesteigerte Reizbarkeit des Gehirnlebens, pdi_350.033
völlige Fremdheit gegenüber der Denkart der Welt pdi_350.034
und der Durchschnittsmenschen. So entsteht die melancholische pdi_350.035
Einsamkeit des Genies. Diese trübselige Verherrlichung des
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