pdi_335.001 des Publicums leiten, der ästhetischen Kritik und Philologie einen pdi_335.002 festen Halt gewähren. Aber jedes empirische, vergleichende Verfahren pdi_335.003 kann nur aus dem Vergangenen eine Regel abziehen, pdi_335.004 deren Gültigkeit also geschichtlich beschränkt ist, sie kann nie pdi_335.005 das Neue, Zukunftvolle binden oder beurtheilen. Diese Regel pdi_335.006 ist nur rückwärts gewandt, enthält aber nicht das Gesetz der pdi_335.007 Zukunft. Seitdem die Voraussetzung vom mustergültigen Werth pdi_335.008 der antiken Dichtung gefallen ist, können also nur aus der pdi_335.009 menschlichen Natur das Gesetz des Schönen und die Regeln pdi_335.010 der Poesie abgeleitet werden. Die Poetik hatte zuerst einen pdi_335.011 festen Punkt in dem Mustergültigen, aus dem sie abstrahirte, pdi_335.012 dann in irgend einem metaphysischen Begriff des Schönen: nun pdi_335.013 muss sie diesen im Seelenleben suchen.
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Ein allgemeines Verhältniss zwischen dem Psychologischen pdi_335.015 und dem Geschichtlichen erweist sich hier, welches durch alle pdi_335.016 Gebiete hindurchgeht. Aus dem dichterischen Vorgang, den pdi_335.017 Darstellungsmitteln, deren er sich bedient, den Gegenständen, pdi_335.018 die er hinstellt, entspringen die gleichförmigen Bedingungen, pdi_335.019 unter denen alles Dichten steht, die allgemein gültigen Regeln, pdi_335.020 an die es gebunden ist. Dann treten für die einzelnen Formen pdi_335.021 der Poesie besondere Bedingungen hinzu, und so entstehen die pdi_335.022 allgemeingültigen Normen der lyrischen, epischen, dramatischen pdi_335.023 Dichtung. In diesen Formen, nach diesen Regeln bildet sich pdi_335.024 eine poetische Technik aus: Technik der griechischen, der spanischen pdi_335.025 oder der altenglischen Bühne. Sie kann ebenfalls in pdi_335.026 einer Formen- und Regellehre entwickelt werden. Aber dieselbe pdi_335.027 ist historisch bedingt, nicht allgemein menschlich. Ihre Unterlage pdi_335.028 bilden Gegebenheiten des geschichtlichen Lebens, des ganzen pdi_335.029 Gemüthsstandes, weiterhin Darstellungsgewohnheiten: so entsteht pdi_335.030 eine national und zeitlich bestimmte Art, Personen hinzustellen, pdi_335.031 Handlungen zu verknüpfen: die Technik, welche nun in der pdi_335.032 grossen Poesie von schöpferischen Genies entwickelt wird, bleibt pdi_335.033 an dies Alles gebunden und vermag nur in die Züge dieses thatsächlichen pdi_335.034 und geschichtlichen Charakters der Poesie Einheit, pdi_335.035 Nothwendigkeit und erhöhte Kunstwirkung zu bringen. Daher ist pdi_335.036 die Phantasie des Dichters nicht nur in ihrem Stoff, sondern
pdi_335.001 des Publicums leiten, der ästhetischen Kritik und Philologie einen pdi_335.002 festen Halt gewähren. Aber jedes empirische, vergleichende Verfahren pdi_335.003 kann nur aus dem Vergangenen eine Regel abziehen, pdi_335.004 deren Gültigkeit also geschichtlich beschränkt ist, sie kann nie pdi_335.005 das Neue, Zukunftvolle binden oder beurtheilen. Diese Regel pdi_335.006 ist nur rückwärts gewandt, enthält aber nicht das Gesetz der pdi_335.007 Zukunft. Seitdem die Voraussetzung vom mustergültigen Werth pdi_335.008 der antiken Dichtung gefallen ist, können also nur aus der pdi_335.009 menschlichen Natur das Gesetz des Schönen und die Regeln pdi_335.010 der Poesie abgeleitet werden. Die Poetik hatte zuerst einen pdi_335.011 festen Punkt in dem Mustergültigen, aus dem sie abstrahirte, pdi_335.012 dann in irgend einem metaphysischen Begriff des Schönen: nun pdi_335.013 muss sie diesen im Seelenleben suchen.
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Ein allgemeines Verhältniss zwischen dem Psychologischen pdi_335.015 und dem Geschichtlichen erweist sich hier, welches durch alle pdi_335.016 Gebiete hindurchgeht. Aus dem dichterischen Vorgang, den pdi_335.017 Darstellungsmitteln, deren er sich bedient, den Gegenständen, pdi_335.018 die er hinstellt, entspringen die gleichförmigen Bedingungen, pdi_335.019 unter denen alles Dichten steht, die allgemein gültigen Regeln, pdi_335.020 an die es gebunden ist. Dann treten für die einzelnen Formen pdi_335.021 der Poesie besondere Bedingungen hinzu, und so entstehen die pdi_335.022 allgemeingültigen Normen der lyrischen, epischen, dramatischen pdi_335.023 Dichtung. In diesen Formen, nach diesen Regeln bildet sich pdi_335.024 eine poetische Technik aus: Technik der griechischen, der spanischen pdi_335.025 oder der altenglischen Bühne. Sie kann ebenfalls in pdi_335.026 einer Formen- und Regellehre entwickelt werden. Aber dieselbe pdi_335.027 ist historisch bedingt, nicht allgemein menschlich. Ihre Unterlage pdi_335.028 bilden Gegebenheiten des geschichtlichen Lebens, des ganzen pdi_335.029 Gemüthsstandes, weiterhin Darstellungsgewohnheiten: so entsteht pdi_335.030 eine national und zeitlich bestimmte Art, Personen hinzustellen, pdi_335.031 Handlungen zu verknüpfen: die Technik, welche nun in der pdi_335.032 grossen Poesie von schöpferischen Genies entwickelt wird, bleibt pdi_335.033 an dies Alles gebunden und vermag nur in die Züge dieses thatsächlichen pdi_335.034 und geschichtlichen Charakters der Poesie Einheit, pdi_335.035 Nothwendigkeit und erhöhte Kunstwirkung zu bringen. Daher ist pdi_335.036 die Phantasie des Dichters nicht nur in ihrem Stoff, sondern
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festen Halt gewähren. Aber jedes empirische, vergleichende Verfahren pdi_335.003
kann nur aus dem Vergangenen eine Regel abziehen, pdi_335.004
deren Gültigkeit also geschichtlich beschränkt ist, sie kann nie pdi_335.005
das Neue, Zukunftvolle binden oder beurtheilen. Diese Regel pdi_335.006
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der antiken Dichtung gefallen ist, können also nur aus der pdi_335.009
menschlichen Natur das Gesetz des Schönen und die Regeln pdi_335.010
der Poesie abgeleitet werden. Die Poetik hatte zuerst einen pdi_335.011
festen Punkt in dem Mustergültigen, aus dem sie abstrahirte, pdi_335.012
dann in irgend einem metaphysischen Begriff des Schönen: nun pdi_335.013
muss sie diesen im Seelenleben suchen.
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Ein allgemeines Verhältniss zwischen dem Psychologischen pdi_335.015
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grossen Poesie von schöpferischen Genies entwickelt wird, bleibt pdi_335.033
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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/37>, abgerufen am 16.07.2024.
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