Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_481.001 pdi_481.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0183" n="481"/><lb n="pdi_481.001"/> Bestandtheile unseres Lebens die metrische Form gesprengt. <lb n="pdi_481.002"/> Der Roman hat die Herrschaft angetreten. Er allein <lb n="pdi_481.003"/> vermag, unter den Bedingungen unsrer Zeit die alte Aufgabe der <lb n="pdi_481.004"/> epischen Dichtung zu lösen, einen freien, betrachtenden Blick <lb n="pdi_481.005"/> über den Zusammenhang der Weltwirklichkeit zu gewähren. Einfachen, <lb n="pdi_481.006"/> der Natur nahen Zuständen, wie sie Goethe im Hermann <lb n="pdi_481.007"/> wählte, lässt sich ein reiner Zusammenhang ganz poetischer Situationen <lb n="pdi_481.008"/> abgewinnen, deren angemessene Form metrisch ist. Uns <lb n="pdi_481.009"/> aber drängt es heute, die grossen Centren des Lebens in <lb n="pdi_481.010"/> ihrem Wesen und ihrer Bedeutsamkeit aufzufassen. So hat der <lb n="pdi_481.011"/> französische Roman die Seele von Paris zu erfassen gesucht, <lb n="pdi_481.012"/> und Dickens hat London, in allen Contrasten doch ein einziges <lb n="pdi_481.013"/> ungeheures Wesen, dargestellt. Seitdem wir Deutsche eine <lb n="pdi_481.014"/> Hauptstadt haben, ist dem deutschen Roman eine neue Aufgabe <lb n="pdi_481.015"/> erwachsen, und wer sie löst, wird der gelesenste Schriftsteller <lb n="pdi_481.016"/> unsres Volkes sein. Aber auch hier ist uns der mit der <lb n="pdi_481.017"/> Wirklichkeit des heutigen Lebens, wie es nun einmal ist, <lb n="pdi_481.018"/> ringende Mensch der Mittelpunkt. Freilich muss sich erst die <lb n="pdi_481.019"/> Einsicht Bahn brechen, dass die Prosa ebenso eine strenge <lb n="pdi_481.020"/> Kunstform ermöglicht als die metrische Form. Es war ein <lb n="pdi_481.021"/> grosses Verdienst Friedrich Schlegels, dass er zuerst die Prosaform <lb n="pdi_481.022"/> gleichsam ästhetisch courfähig gemacht hat, insbesondere <lb n="pdi_481.023"/> durch seine Erörterungen über Boccaccio und Lessing. Die <lb n="pdi_481.024"/> Theorie des Romans ist die uns heute zunächst liegende, die <lb n="pdi_481.025"/> praktisch weitaus bedeutendste Einzelaufgabe der Poetik. Der <lb n="pdi_481.026"/> materialistische Roman aus der Schule der Comédie humaine <lb n="pdi_481.027"/> ist bis auf Flaubert und Zola Poesie ohne einen siegreichen <lb n="pdi_481.028"/> Helden, Krisis ohne wirkliche Versöhnung. Erst aus dem tiefen <lb n="pdi_481.029"/> Herzen des herrlichen Dickens, der mit dem Kinde, dem Gedankenschwachen, <lb n="pdi_481.030"/> dem Armen mitempfand, ist der sociale Roman <lb n="pdi_481.031"/> hervorgegangen. Und erst aus der Tiefe des deutschen geschichtlichen <lb n="pdi_481.032"/> Bewusstseins entstand in Arnims Kronenwächtern <lb n="pdi_481.033"/> der erste ächte geschichtliche Roman. Konrad Ferdinand <lb n="pdi_481.034"/> Meyer ist schöpferisch in Erfindungen, geschichtliche Menschen <lb n="pdi_481.035"/> aus dem Dunkel der Zeiten sinnlich sichtbar hervortreten zu <lb n="pdi_481.036"/> lassen. Alles werdend, aufsteigend, einem Unbekannten entgegenschreitend, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [481/0183]
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Bestandtheile unseres Lebens die metrische Form gesprengt. pdi_481.002
Der Roman hat die Herrschaft angetreten. Er allein pdi_481.003
vermag, unter den Bedingungen unsrer Zeit die alte Aufgabe der pdi_481.004
epischen Dichtung zu lösen, einen freien, betrachtenden Blick pdi_481.005
über den Zusammenhang der Weltwirklichkeit zu gewähren. Einfachen, pdi_481.006
der Natur nahen Zuständen, wie sie Goethe im Hermann pdi_481.007
wählte, lässt sich ein reiner Zusammenhang ganz poetischer Situationen pdi_481.008
abgewinnen, deren angemessene Form metrisch ist. Uns pdi_481.009
aber drängt es heute, die grossen Centren des Lebens in pdi_481.010
ihrem Wesen und ihrer Bedeutsamkeit aufzufassen. So hat der pdi_481.011
französische Roman die Seele von Paris zu erfassen gesucht, pdi_481.012
und Dickens hat London, in allen Contrasten doch ein einziges pdi_481.013
ungeheures Wesen, dargestellt. Seitdem wir Deutsche eine pdi_481.014
Hauptstadt haben, ist dem deutschen Roman eine neue Aufgabe pdi_481.015
erwachsen, und wer sie löst, wird der gelesenste Schriftsteller pdi_481.016
unsres Volkes sein. Aber auch hier ist uns der mit der pdi_481.017
Wirklichkeit des heutigen Lebens, wie es nun einmal ist, pdi_481.018
ringende Mensch der Mittelpunkt. Freilich muss sich erst die pdi_481.019
Einsicht Bahn brechen, dass die Prosa ebenso eine strenge pdi_481.020
Kunstform ermöglicht als die metrische Form. Es war ein pdi_481.021
grosses Verdienst Friedrich Schlegels, dass er zuerst die Prosaform pdi_481.022
gleichsam ästhetisch courfähig gemacht hat, insbesondere pdi_481.023
durch seine Erörterungen über Boccaccio und Lessing. Die pdi_481.024
Theorie des Romans ist die uns heute zunächst liegende, die pdi_481.025
praktisch weitaus bedeutendste Einzelaufgabe der Poetik. Der pdi_481.026
materialistische Roman aus der Schule der Comédie humaine pdi_481.027
ist bis auf Flaubert und Zola Poesie ohne einen siegreichen pdi_481.028
Helden, Krisis ohne wirkliche Versöhnung. Erst aus dem tiefen pdi_481.029
Herzen des herrlichen Dickens, der mit dem Kinde, dem Gedankenschwachen, pdi_481.030
dem Armen mitempfand, ist der sociale Roman pdi_481.031
hervorgegangen. Und erst aus der Tiefe des deutschen geschichtlichen pdi_481.032
Bewusstseins entstand in Arnims Kronenwächtern pdi_481.033
der erste ächte geschichtliche Roman. Konrad Ferdinand pdi_481.034
Meyer ist schöpferisch in Erfindungen, geschichtliche Menschen pdi_481.035
aus dem Dunkel der Zeiten sinnlich sichtbar hervortreten zu pdi_481.036
lassen. Alles werdend, aufsteigend, einem Unbekannten entgegenschreitend,
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