Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_460.001 Ein Charakter wird aus dem gegebenen Stoff zu allgemeingültiger pdi_460.011 pdi_460.001 Ein Charakter wird aus dem gegebenen Stoff zu allgemeingültiger pdi_460.011 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0162" n="460"/><lb n="pdi_460.001"/> Verlegung unseres geistigen Gehaltes in eine fingirte Person <lb n="pdi_460.002"/> enthält unaufgelöste Schwierigkeiten. Doch ist sie die Grundlage <lb n="pdi_460.003"/> der Pantomime, des Dramas sowie der selbständigen Lebendigkeit <lb n="pdi_460.004"/> von Charakteren in der epischen Darstellung. Sie kann <lb n="pdi_460.005"/> am <hi rendition="#g">Schauspieler</hi> studirt werden. Dieser versetzt sich so in <lb n="pdi_460.006"/> fremde Personen, dass für die Zeit seines Spiels theilweise sein <lb n="pdi_460.007"/> gesondertes Selbstbewusstsein schwindet. Es ist wohl nicht zufällig, <lb n="pdi_460.008"/> dass zwei Schauspieler, Shakespeare und Molière, ihren <lb n="pdi_460.009"/> Personen die grösste selbständige Lebendigkeit verliehen haben.</p> <lb n="pdi_460.010"/> <p> Ein Charakter wird aus dem gegebenen Stoff zu allgemeingültiger <lb n="pdi_460.011"/> Gefühlswirkung erhoben, indem Bestandtheile der menschlichen <lb n="pdi_460.012"/> Natur, welche in Jedem stark anklingen, in den wesenhaften <lb n="pdi_460.013"/> Beziehungen, durch welche sie einen Causalzusammenhang <lb n="pdi_460.014"/> bilden, verknüpft werden. Jeder wahrhaft poetische Charakter <lb n="pdi_460.015"/> ist daher ein <hi rendition="#g">Unwirkliches</hi> und <hi rendition="#g">Typisches.</hi> So sind <lb n="pdi_460.016"/> gerade die wirksamsten Charaktere Shakespeares blosse Präparate <lb n="pdi_460.017"/> von dem Verlauf einer Leidenschaft in einer für ihre <lb n="pdi_460.018"/> Entfaltung geeigneten Seele. Die Hauptcharaktere Goethes, <lb n="pdi_460.019"/> insbesondere Faust, haben in den einzelnen Lebensmomenten die <lb n="pdi_460.020"/> volle Realität des persönlichen Erlebnisses, aber diese Zustandsbilder <lb n="pdi_460.021"/> sind nur aneinander gesetzt. Die epische oder dramatische <lb n="pdi_460.022"/> Darstellung eines Charakters besteht nur in der sinnfälligen Vergegenwärtigung <lb n="pdi_460.023"/> einzelner Scenen, dagegen existirt der ganze <lb n="pdi_460.024"/> Charakter nirgend in dem Werke, sondern zunächst im Kopf <lb n="pdi_460.025"/> des Dichters, dann in der Einbildungskraft des Hörers oder <lb n="pdi_460.026"/> Lesers. Während er etwas Unwirkliches ist, empfängt er doch <lb n="pdi_460.027"/> den Schein der Wirklichkeit durch einen Kunstgriff, welcher <lb n="pdi_460.028"/> das Gewahren desselben dem von wirklichen Personen ähnlich <lb n="pdi_460.029"/> macht. Das hellste, schärfste Licht des Interesses fällt auf <lb n="pdi_460.030"/> einzelne gefühlswirksame Lebensmomente: diese stehen in fassbaren <lb n="pdi_460.031"/> Beziehungen zu einander und lassen eine Einheit des Charakters <lb n="pdi_460.032"/> ahnen. Wie in der Wirklichkeit werden diese Momente <lb n="pdi_460.033"/> von weniger betonten aus vorbereitet und so entsteht gleichsam die <lb n="pdi_460.034"/> Rundung des Lebens. Denn ein Drama wie Emilia Galotti, <lb n="pdi_460.035"/> das aus lauter affectiven Momenten zusammengesetzt ist, entbehrt <lb n="pdi_460.036"/> der heiteren Gesundheit des Daseins. Das Wesenhafte, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [460/0162]
pdi_460.001
Verlegung unseres geistigen Gehaltes in eine fingirte Person pdi_460.002
enthält unaufgelöste Schwierigkeiten. Doch ist sie die Grundlage pdi_460.003
der Pantomime, des Dramas sowie der selbständigen Lebendigkeit pdi_460.004
von Charakteren in der epischen Darstellung. Sie kann pdi_460.005
am Schauspieler studirt werden. Dieser versetzt sich so in pdi_460.006
fremde Personen, dass für die Zeit seines Spiels theilweise sein pdi_460.007
gesondertes Selbstbewusstsein schwindet. Es ist wohl nicht zufällig, pdi_460.008
dass zwei Schauspieler, Shakespeare und Molière, ihren pdi_460.009
Personen die grösste selbständige Lebendigkeit verliehen haben.
pdi_460.010
Ein Charakter wird aus dem gegebenen Stoff zu allgemeingültiger pdi_460.011
Gefühlswirkung erhoben, indem Bestandtheile der menschlichen pdi_460.012
Natur, welche in Jedem stark anklingen, in den wesenhaften pdi_460.013
Beziehungen, durch welche sie einen Causalzusammenhang pdi_460.014
bilden, verknüpft werden. Jeder wahrhaft poetische Charakter pdi_460.015
ist daher ein Unwirkliches und Typisches. So sind pdi_460.016
gerade die wirksamsten Charaktere Shakespeares blosse Präparate pdi_460.017
von dem Verlauf einer Leidenschaft in einer für ihre pdi_460.018
Entfaltung geeigneten Seele. Die Hauptcharaktere Goethes, pdi_460.019
insbesondere Faust, haben in den einzelnen Lebensmomenten die pdi_460.020
volle Realität des persönlichen Erlebnisses, aber diese Zustandsbilder pdi_460.021
sind nur aneinander gesetzt. Die epische oder dramatische pdi_460.022
Darstellung eines Charakters besteht nur in der sinnfälligen Vergegenwärtigung pdi_460.023
einzelner Scenen, dagegen existirt der ganze pdi_460.024
Charakter nirgend in dem Werke, sondern zunächst im Kopf pdi_460.025
des Dichters, dann in der Einbildungskraft des Hörers oder pdi_460.026
Lesers. Während er etwas Unwirkliches ist, empfängt er doch pdi_460.027
den Schein der Wirklichkeit durch einen Kunstgriff, welcher pdi_460.028
das Gewahren desselben dem von wirklichen Personen ähnlich pdi_460.029
macht. Das hellste, schärfste Licht des Interesses fällt auf pdi_460.030
einzelne gefühlswirksame Lebensmomente: diese stehen in fassbaren pdi_460.031
Beziehungen zu einander und lassen eine Einheit des Charakters pdi_460.032
ahnen. Wie in der Wirklichkeit werden diese Momente pdi_460.033
von weniger betonten aus vorbereitet und so entsteht gleichsam die pdi_460.034
Rundung des Lebens. Denn ein Drama wie Emilia Galotti, pdi_460.035
das aus lauter affectiven Momenten zusammengesetzt ist, entbehrt pdi_460.036
der heiteren Gesundheit des Daseins. Das Wesenhafte,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |