Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_455.001 10. Alle weiteren Vorgänge im Dichter sind Umsetzungen pdi_455.013 pdi_455.001 10. Alle weiteren Vorgänge im Dichter sind Umsetzungen pdi_455.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0157" n="455"/><lb n="pdi_455.001"/> Das ist unsere Ilias und Odyssee. Es ist, was immer neu geschieht, <lb n="pdi_455.002"/> wo ein jugendfrisches Gemüth in die Welt tritt. Es ist, <lb n="pdi_455.003"/> was wir Alle als unsere verlorene Jugend in dem Wilhelm <lb n="pdi_455.004"/> Meister oder Copperfield wiederfinden. Schon der Roderich <lb n="pdi_455.005"/> Random von Smollet ist die Entwicklungsgeschichte eines Knaben, <lb n="pdi_455.006"/> der sich den eigenen Weg durch das Leben bahnen muss. <lb n="pdi_455.007"/> Dickens gab dann dem Roman die vollkommenste Form, welche <lb n="pdi_455.008"/> er bisher erreicht hat. Seine technisch besten Arbeiten haben <lb n="pdi_455.009"/> in die Entwicklung eines Helden Spiel und Gegenspiel, Spannung <lb n="pdi_455.010"/> und Krisis eingeführt. So verknüpfen sie die Hilfsmittel beider <lb n="pdi_455.011"/> Verfahrungsweisen miteinander.</p> <lb n="pdi_455.012"/> <p> 10. <hi rendition="#g">Alle weiteren Vorgänge im Dichter</hi> sind Umsetzungen <lb n="pdi_455.013"/> der Erfahrung von den dargelegten Unterlagen aus und <lb n="pdi_455.014"/> nach den entwickelten Gesetzen. Sie heben Bilder empor, welche <lb n="pdi_455.015"/> ganz von Gefühlskraft erfüllt und allgemeingültig bedeutsam <lb n="pdi_455.016"/> sind. Indem sie diese aber der Phantasie eines Hörers oder Lesers <lb n="pdi_455.017"/> einzuprägen streben, müssen sie die Einbildungskraft in lebendiges <lb n="pdi_455.018"/> Spiel setzen. Auch darum muss der Zusammenhang der Dichtung <lb n="pdi_455.019"/> in Charakteren, Handlung und Darstellung der vom Ge <lb n="pdi_455.020"/> fühl beflügelten Phantasie angemessen sein. Zeit, Raum und <lb n="pdi_455.021"/> Causalzusammenhang müssen so behandelt werden, dass die <lb n="pdi_455.022"/> Gestalten sich leicht und ohne Widerstand in der Phantasie <lb n="pdi_455.023"/> aufbauen und bewegen. Die Worte und Sätze einer Dichtung <lb n="pdi_455.024"/> gleichen den Farbenklexen auf einem späten Rembrandt: erst <lb n="pdi_455.025"/> die mitwirkende Einbildungskraft des Hörers oder Lesers gestaltet <lb n="pdi_455.026"/> daraus Figuren. Der Gehalt einer Dichtung erwächst aus <lb n="pdi_455.027"/> der Transformation der gefühlsarmen Bestandtheile des Lebens <lb n="pdi_455.028"/> und ihrer mechanisch unbiegsamen Beziehungen nach Raum, Zeit <lb n="pdi_455.029"/> und Causalität in eine poetische Welt. Diese ist dann möglichst <lb n="pdi_455.030"/> aus lauter gefühlswirksamen Bestandtheilen zusammengesetzt. <lb n="pdi_455.031"/> Die <hi rendition="#g">Zeit,</hi> welche dieselben trennt und zusammenhält, <lb n="pdi_455.032"/> wird nicht durch Uhren gemessen, sondern durch das, was geschieht. <lb n="pdi_455.033"/> So liegt hier nur eine der Poesie eigene freie Verwendung <lb n="pdi_455.034"/> der natürlichen Zeitbestimmung nach dem Ablauf innerer <lb n="pdi_455.035"/> Zustände vor. Daher gehört die französische Einheit der Zeit <lb n="pdi_455.036"/> in eine nüchterne, nach Uhren regulirte Welt, aber nicht in </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [455/0157]
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Das ist unsere Ilias und Odyssee. Es ist, was immer neu geschieht, pdi_455.002
wo ein jugendfrisches Gemüth in die Welt tritt. Es ist, pdi_455.003
was wir Alle als unsere verlorene Jugend in dem Wilhelm pdi_455.004
Meister oder Copperfield wiederfinden. Schon der Roderich pdi_455.005
Random von Smollet ist die Entwicklungsgeschichte eines Knaben, pdi_455.006
der sich den eigenen Weg durch das Leben bahnen muss. pdi_455.007
Dickens gab dann dem Roman die vollkommenste Form, welche pdi_455.008
er bisher erreicht hat. Seine technisch besten Arbeiten haben pdi_455.009
in die Entwicklung eines Helden Spiel und Gegenspiel, Spannung pdi_455.010
und Krisis eingeführt. So verknüpfen sie die Hilfsmittel beider pdi_455.011
Verfahrungsweisen miteinander.
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10. Alle weiteren Vorgänge im Dichter sind Umsetzungen pdi_455.013
der Erfahrung von den dargelegten Unterlagen aus und pdi_455.014
nach den entwickelten Gesetzen. Sie heben Bilder empor, welche pdi_455.015
ganz von Gefühlskraft erfüllt und allgemeingültig bedeutsam pdi_455.016
sind. Indem sie diese aber der Phantasie eines Hörers oder Lesers pdi_455.017
einzuprägen streben, müssen sie die Einbildungskraft in lebendiges pdi_455.018
Spiel setzen. Auch darum muss der Zusammenhang der Dichtung pdi_455.019
in Charakteren, Handlung und Darstellung der vom Ge pdi_455.020
fühl beflügelten Phantasie angemessen sein. Zeit, Raum und pdi_455.021
Causalzusammenhang müssen so behandelt werden, dass die pdi_455.022
Gestalten sich leicht und ohne Widerstand in der Phantasie pdi_455.023
aufbauen und bewegen. Die Worte und Sätze einer Dichtung pdi_455.024
gleichen den Farbenklexen auf einem späten Rembrandt: erst pdi_455.025
die mitwirkende Einbildungskraft des Hörers oder Lesers gestaltet pdi_455.026
daraus Figuren. Der Gehalt einer Dichtung erwächst aus pdi_455.027
der Transformation der gefühlsarmen Bestandtheile des Lebens pdi_455.028
und ihrer mechanisch unbiegsamen Beziehungen nach Raum, Zeit pdi_455.029
und Causalität in eine poetische Welt. Diese ist dann möglichst pdi_455.030
aus lauter gefühlswirksamen Bestandtheilen zusammengesetzt. pdi_455.031
Die Zeit, welche dieselben trennt und zusammenhält, pdi_455.032
wird nicht durch Uhren gemessen, sondern durch das, was geschieht. pdi_455.033
So liegt hier nur eine der Poesie eigene freie Verwendung pdi_455.034
der natürlichen Zeitbestimmung nach dem Ablauf innerer pdi_455.035
Zustände vor. Daher gehört die französische Einheit der Zeit pdi_455.036
in eine nüchterne, nach Uhren regulirte Welt, aber nicht in
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