Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_447.001 Wir dachten das Schöne als die Mitte auf einer Linie von pdi_447.035 pdi_447.001 Wir dachten das Schöne als die Mitte auf einer Linie von pdi_447.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0149" n="447"/><lb n="pdi_447.001"/> Handlung mit einem reinen Schluss, dabei drückt es den <lb n="pdi_447.002"/> Charakter des Wirklichen aus (wie man denn in ihm ein Gesetz <lb n="pdi_447.003"/> der wirklichen Welt hat finden wollen) und befriedigt so den <lb n="pdi_447.004"/> Verstand. In das Tragische kann als ein weiterer Bestandtheil <lb n="pdi_447.005"/> das Unlustgefühl eintreten, welches durch die ästhetische Kategorie <lb n="pdi_447.006"/> der Hässlichkeit bezeichnet wird. Die Frage, ob das <hi rendition="#g">Hässliche</hi> <lb n="pdi_447.007"/> Gegenstand der Kunst sein könne, entsteht nur aus einer unglücklichen <lb n="pdi_447.008"/> abstracten Ausdrucksweise. Denn die Eigenschaft des <lb n="pdi_447.009"/> Hässlichen ist immer ein untergeordneter Bestandtheil an dem <lb n="pdi_447.010"/> ästhetischen Gegenstande, welchen die Poesie hinstellt; sie wirkt <lb n="pdi_447.011"/> stets nur indirect ästhetisch, und die in ihr enthaltene Unlust muss <lb n="pdi_447.012"/> in dem Aggregat der Gefühle überwogen und in der Abfolge <lb n="pdi_447.013"/> derselben in Befriedigung übergeführt werden. Es giebt sonach <lb n="pdi_447.014"/> bestimmte ästhetische Orte, an denen das Hässliche auftreten <lb n="pdi_447.015"/> darf. Einen solchen Ort bezeichnet die Verbindung des Erhabenen <lb n="pdi_447.016"/> als eines Furchtbaren mit dem Hässlichen. So steigern <lb n="pdi_447.017"/> schon Bemalungen und Masken der Wilden durch die Hässlichkeit <lb n="pdi_447.018"/> den Eindruck des Furchtbaren. Dieselbe Steigerung des <lb n="pdi_447.019"/> Schreckens wird durch Dantes Zeichnung des Cerberus oder des <lb n="pdi_447.020"/> Höllenrichters Minos und durch die Missgestalt Richards III <lb n="pdi_447.021"/> hervorgebracht. Von demselben starken Recept haben Victor <lb n="pdi_447.022"/> Hugo sowie die französischen Romantiker einen übermässigen <lb n="pdi_447.023"/> Gebrauch gemacht, und Dickens bedient sich desselben für seine <lb n="pdi_447.024"/> schlimmsten Bösewichter. Die Erhabenheit des Bösen ist das <lb n="pdi_447.025"/> <hi rendition="#g">Dämonische.</hi> Auch das furchtbare Böse ist schliesslich erhaben. <lb n="pdi_447.026"/> Es ist erhaben, wenn Adah, Kains Weib, von Lucifer <lb n="pdi_447.027"/> sagt: „In seinem Blick liegt eine Macht, die mein unstetes <lb n="pdi_447.028"/> Auge auf seines heftet.“ Der Mensch, für dessen Willen keine <lb n="pdi_447.029"/> Schranken sind, wird der Naturgewalt selber ähnlich. Er wirkt <lb n="pdi_447.030"/> Schrecken um sich. Er ist einsam mitten in der Gesellschaft, <lb n="pdi_447.031"/> wie das Raubthier. Zu dieser Mischung des Erhabenen, Tragischen <lb n="pdi_447.032"/> und Bösen kann sich dann noch das Hässliche gesellen. <lb n="pdi_447.033"/> Die Grenzen des ästhetischen Eindrucks werden hier berührt.</p> <lb n="pdi_447.034"/> <p> Wir dachten das Schöne als die Mitte auf einer Linie von <lb n="pdi_447.035"/> poetischen Stimmungen. Die andere der beiden Seiten wird nun <lb n="pdi_447.036"/> durch die Stimmungen gebildet, in denen das Gefühl etwas Geringes </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [447/0149]
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Handlung mit einem reinen Schluss, dabei drückt es den pdi_447.002
Charakter des Wirklichen aus (wie man denn in ihm ein Gesetz pdi_447.003
der wirklichen Welt hat finden wollen) und befriedigt so den pdi_447.004
Verstand. In das Tragische kann als ein weiterer Bestandtheil pdi_447.005
das Unlustgefühl eintreten, welches durch die ästhetische Kategorie pdi_447.006
der Hässlichkeit bezeichnet wird. Die Frage, ob das Hässliche pdi_447.007
Gegenstand der Kunst sein könne, entsteht nur aus einer unglücklichen pdi_447.008
abstracten Ausdrucksweise. Denn die Eigenschaft des pdi_447.009
Hässlichen ist immer ein untergeordneter Bestandtheil an dem pdi_447.010
ästhetischen Gegenstande, welchen die Poesie hinstellt; sie wirkt pdi_447.011
stets nur indirect ästhetisch, und die in ihr enthaltene Unlust muss pdi_447.012
in dem Aggregat der Gefühle überwogen und in der Abfolge pdi_447.013
derselben in Befriedigung übergeführt werden. Es giebt sonach pdi_447.014
bestimmte ästhetische Orte, an denen das Hässliche auftreten pdi_447.015
darf. Einen solchen Ort bezeichnet die Verbindung des Erhabenen pdi_447.016
als eines Furchtbaren mit dem Hässlichen. So steigern pdi_447.017
schon Bemalungen und Masken der Wilden durch die Hässlichkeit pdi_447.018
den Eindruck des Furchtbaren. Dieselbe Steigerung des pdi_447.019
Schreckens wird durch Dantes Zeichnung des Cerberus oder des pdi_447.020
Höllenrichters Minos und durch die Missgestalt Richards III pdi_447.021
hervorgebracht. Von demselben starken Recept haben Victor pdi_447.022
Hugo sowie die französischen Romantiker einen übermässigen pdi_447.023
Gebrauch gemacht, und Dickens bedient sich desselben für seine pdi_447.024
schlimmsten Bösewichter. Die Erhabenheit des Bösen ist das pdi_447.025
Dämonische. Auch das furchtbare Böse ist schliesslich erhaben. pdi_447.026
Es ist erhaben, wenn Adah, Kains Weib, von Lucifer pdi_447.027
sagt: „In seinem Blick liegt eine Macht, die mein unstetes pdi_447.028
Auge auf seines heftet.“ Der Mensch, für dessen Willen keine pdi_447.029
Schranken sind, wird der Naturgewalt selber ähnlich. Er wirkt pdi_447.030
Schrecken um sich. Er ist einsam mitten in der Gesellschaft, pdi_447.031
wie das Raubthier. Zu dieser Mischung des Erhabenen, Tragischen pdi_447.032
und Bösen kann sich dann noch das Hässliche gesellen. pdi_447.033
Die Grenzen des ästhetischen Eindrucks werden hier berührt.
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poetischen Stimmungen. Die andere der beiden Seiten wird nun pdi_447.036
durch die Stimmungen gebildet, in denen das Gefühl etwas Geringes
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