pdi_310.001 Kunst bedarf durchgängig einer Schulung der Künstler und pdi_310.002 einer Erziehung des Publicums durch die ästhetische Besinnung, pdi_310.003 soll ihr höherer Charakter den gemeinen Instincten der Masse pdi_310.004 gegenüber ausgebildet, gewürdigt und vertheidigt werden. Ist pdi_310.005 nicht der grosse Styl unsrer Dichtung nur aufrecht erhalten pdi_310.006 worden durch die königliche Gewalt unsrer beiden Dichter, die pdi_310.007 in Weimar residirten? Vermittelst einer von Weimar aus geleiteten pdi_310.008 umfassenden ästhetischen Beeinflussung, unterstützt von pdi_310.009 verfügbaren Zeitschriften, nicht ohne den Terrorismus der pdi_310.010 Xenien haben sie Kotzebue, Iffland, Nicolai niedergehalten und pdi_310.011 das liebe deutsche Publicum in seinem Glauben an Hermann pdi_310.012 und Dorothea und die Braut von Messina gehoben und bestärkt. pdi_310.013 Dieser Glaube ist demselben nicht natürlich gewesen.
pdi_310.014
Die Aufgabe der Poetik, welche sich aus dieser ihrer lebendigen pdi_310.015 Beziehung zur Kunstübung selber ergiebt, ist: kann sie pdi_310.016 allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche als Regeln des pdi_310.017 Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und wie pdi_310.018 verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu pdi_310.019 diesen allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die pdi_310.020 überall auf den Geisteswissenschaften lastende Schwierigkeit, pdi_310.021 allgemeingültige Sätze abzuleiten aus den inneren Erfahrungen, pdi_310.022 die so persönlich beschränkt, so unbestimmt, so zusammengesetzt pdi_310.023 und doch unzerlegbar sind? Die alte Aufgabe der Poetik tritt pdi_310.024 hier wieder auf, und es fragt sich, ob sie nun durch die Hilfsmittel, pdi_310.025 welche uns die Erweiterung des wissenschaftlichen Gesichtskreises pdi_310.026 zur Verfügung stellt, gelöst werden könne. Und pdi_310.027 zwar gestatten die empirischen und technischen Gesichtspunkte pdi_310.028 der Gegenwart, dass wir von der Poetik und den nebengeordneten pdi_310.029 ästhetischen Einzelwissenschaften zu einer allgemeinen Aesthetik pdi_310.030 aufsteigen.
pdi_310.031
Auch unter einem zweiten Gesichtspunkte ist eine Poetik pdi_310.032 ein unabweisbares Bedürfniss der Gegenwart geworden. Die pdi_310.033 unübersehbare Masse dichterischer Werke aller Völker muss pdi_310.034 für die Zwecke des lebendigen Genusses, der historischen Causalerkenntniss pdi_310.035 und der pädagogischen Praxis geordnet, dem Werthe pdi_310.036 nach taxirt und für das Studium des Menschen sowie der Geschichte
pdi_310.001 Kunst bedarf durchgängig einer Schulung der Künstler und pdi_310.002 einer Erziehung des Publicums durch die ästhetische Besinnung, pdi_310.003 soll ihr höherer Charakter den gemeinen Instincten der Masse pdi_310.004 gegenüber ausgebildet, gewürdigt und vertheidigt werden. Ist pdi_310.005 nicht der grosse Styl unsrer Dichtung nur aufrecht erhalten pdi_310.006 worden durch die königliche Gewalt unsrer beiden Dichter, die pdi_310.007 in Weimar residirten? Vermittelst einer von Weimar aus geleiteten pdi_310.008 umfassenden ästhetischen Beeinflussung, unterstützt von pdi_310.009 verfügbaren Zeitschriften, nicht ohne den Terrorismus der pdi_310.010 Xenien haben sie Kotzebue, Iffland, Nicolai niedergehalten und pdi_310.011 das liebe deutsche Publicum in seinem Glauben an Hermann pdi_310.012 und Dorothea und die Braut von Messina gehoben und bestärkt. pdi_310.013 Dieser Glaube ist demselben nicht natürlich gewesen.
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Die Aufgabe der Poetik, welche sich aus dieser ihrer lebendigen pdi_310.015 Beziehung zur Kunstübung selber ergiebt, ist: kann sie pdi_310.016 allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche als Regeln des pdi_310.017 Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und wie pdi_310.018 verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu pdi_310.019 diesen allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die pdi_310.020 überall auf den Geisteswissenschaften lastende Schwierigkeit, pdi_310.021 allgemeingültige Sätze abzuleiten aus den inneren Erfahrungen, pdi_310.022 die so persönlich beschränkt, so unbestimmt, so zusammengesetzt pdi_310.023 und doch unzerlegbar sind? Die alte Aufgabe der Poetik tritt pdi_310.024 hier wieder auf, und es fragt sich, ob sie nun durch die Hilfsmittel, pdi_310.025 welche uns die Erweiterung des wissenschaftlichen Gesichtskreises pdi_310.026 zur Verfügung stellt, gelöst werden könne. Und pdi_310.027 zwar gestatten die empirischen und technischen Gesichtspunkte pdi_310.028 der Gegenwart, dass wir von der Poetik und den nebengeordneten pdi_310.029 ästhetischen Einzelwissenschaften zu einer allgemeinen Aesthetik pdi_310.030 aufsteigen.
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Auch unter einem zweiten Gesichtspunkte ist eine Poetik pdi_310.032 ein unabweisbares Bedürfniss der Gegenwart geworden. Die pdi_310.033 unübersehbare Masse dichterischer Werke aller Völker muss pdi_310.034 für die Zwecke des lebendigen Genusses, der historischen Causalerkenntniss pdi_310.035 und der pädagogischen Praxis geordnet, dem Werthe pdi_310.036 nach taxirt und für das Studium des Menschen sowie der Geschichte
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soll ihr höherer Charakter den gemeinen Instincten der Masse pdi_310.004
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überall auf den Geisteswissenschaften lastende Schwierigkeit, pdi_310.021
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Auch unter einem zweiten Gesichtspunkte ist eine Poetik pdi_310.032
ein unabweisbares Bedürfniss der Gegenwart geworden. Die pdi_310.033
unübersehbare Masse dichterischer Werke aller Völker muss pdi_310.034
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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/12>, abgerufen am 16.07.2024.
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