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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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von einigen Balladen: "Ich hatte sie alle schon seit vielen Jahren pdi_404.002
im Kopf; sie beschäftigten meinen Geist als anmuthige Bilder, pdi_404.003
als schöne Träume, die kamen und gingen." Er fügt dann hinzu: pdi_404.004
"zu anderen Zeiten ging es mir mit meinen Gedichten gänzlich pdi_404.005
anders. Ich hatte davon vorher durchaus keine Eindrücke und pdi_404.006
keine Ahnung, sondern sie kamen plötzlich über mich und pdi_404.007
wollten augenblicklich gemacht sein, so dass ich sie auf der Stelle pdi_404.008
instinctmässig und traumartig niederzuschreiben mich gedrungen pdi_404.009
fühlte." Dieses Unwillkürliche, ja dies Traumbilden im dichterischen pdi_404.010
Schaffen, doch auf der Unterlage ehrlicher Arbeit, die pdi_404.011
voraufgegangen, schildert auch Carlyle an Shakespeare: "Shakespeare pdi_404.012
ist, was ich einen unbewussten Verstand nennen möchte. pdi_404.013
Die Werke eines solchen Mannes wachsen, soviel er auch durch pdi_404.014
den höchsten Aufwand bewusster und vorbedachter Thätigkeit pdi_404.015
erreichen mag, unbewusst, aus unbekannter Tiefe in ihm hervor."

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Jean Paul sagt in einer Stelle seiner Vorschule,1) die doch pdi_404.017
auch in der Form eines ästhetischen Satzes ein Selbstbekenntniss pdi_404.018
des Dichters enthält: "der Charakter selber muss lebendig vor pdi_404.019
Euch in der begeisterten Stunde fest thronen, Ihr müsst ihn pdi_404.020
hören, nicht bloss sehen; er muss Euch, wie ja im Traume geschieht, pdi_404.021
eingeben, nicht Ihr ihm, und das so sehr, dass Ihr in pdi_404.022
der kalten Stunde vorher zwar ungefähr das Was, aber nicht pdi_404.023
das Wie voraussagen könntet. Ein Dichter, der überlegen pdi_404.024
muss, ob er einen Charakter in einem gegebenen Falle Ja oder pdi_404.025
Nein sagen zu lassen habe, werf' ihn weg, es ist eine dumme pdi_404.026
Leiche." Dazu kommt dann in der Anmerkung aus seinen pdi_404.027
Briefen S. 147. Hempel Bd. 38 S. 54: "der echte Dichter ist pdi_404.028
ebenso (wie der Träumende) im Schreiben nur der Zuhörer, pdi_404.029
nicht der Sprachlehrer seiner Charaktere, er schaut sie, wie pdi_404.030
im Traum, lebendig an, und dann hört er sie. Viktors Bemerkung, pdi_404.031
dass ihm ein geträumter Gegner oft schwerere Einwürfe vorlege, pdi_404.032
als ein leibhafter, wird auch vom Schauspieldichter gemacht, pdi_404.033
der vor der Begeisterung auf keine Art der Wortführer der pdi_404.034
Truppe sein könnte, deren Rollenschreiber er in derselben so

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Vorschule der Aesthetik. Ausgabe Hempel S. 222.

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von einigen Balladen: „Ich hatte sie alle schon seit vielen Jahren pdi_404.002
im Kopf; sie beschäftigten meinen Geist als anmuthige Bilder, pdi_404.003
als schöne Träume, die kamen und gingen.“ Er fügt dann hinzu: pdi_404.004
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auch in der Form eines ästhetischen Satzes ein Selbstbekenntniss pdi_404.018
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ebenso (wie der Träumende) im Schreiben nur der Zuhörer, pdi_404.029
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/106>, abgerufen am 27.11.2024.