Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_308.001 Sollen die mächtigen Triebe nicht verkümmern, welche nach pdi_308.032 pdi_308.001 Sollen die mächtigen Triebe nicht verkümmern, welche nach pdi_308.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0010" n="308"/><lb n="pdi_308.001"/> Der Künstler und der Dichter fühlen heute, dass eine wahre <lb n="pdi_308.002"/> und grosse Kunst der Gegenwart einen Inhalt und ein Geheimniss <lb n="pdi_308.003"/> dieser Zeit auszusprechen hätte, so gewaltig als das, welches <lb n="pdi_308.004"/> aus den Madonnen oder den Teppichfiguren Raphaels auf uns blickt, <lb n="pdi_308.005"/> aus den Iphigenien zu uns redet, und er empfindet leidenschaftlich, <lb n="pdi_308.006"/> um so leidenschaftlicher, je dunkler ihm das Ziel seiner <lb n="pdi_308.007"/> Kunst vorschwebt, seinen Widerspruch gegen jene Aesthetik mit <lb n="pdi_308.008"/> rückwärts gewandtem Antlitz, die aus den Werken jener Vergangenheit <lb n="pdi_308.009"/> oder aus abstracten Gedanken einen Begriff der <lb n="pdi_308.010"/> idealschönen Formen ableitet und an diesem die productive <lb n="pdi_308.011"/> Arbeit des ringenden Künstlers misst. Unter denselben Einflüssen <lb n="pdi_308.012"/> ist die Poesie ganz umgestaltet, aber auch herabgezogen <lb n="pdi_308.013"/> worden. Grosse Genies der erzählenden Dichtung wie Dickens <lb n="pdi_308.014"/> und Balzac haben sich dem Bedürfniss eines lesehungrigen <lb n="pdi_308.015"/> Publicums nur allzusehr angepasst. Die Tragödie krankt am <lb n="pdi_308.016"/> Mangel eines Publicums, in welchem die ästhetische Reflexion <lb n="pdi_308.017"/> das Bewusstsein von der höchsten Aufgabe der Poesie wach erhalten <lb n="pdi_308.018"/> hätte. Die Sittencomödie hat unter denselben Umständen <lb n="pdi_308.019"/> die Feinheit in der Führung der Handlung und den Adel des <lb n="pdi_308.020"/> Abschlusses verloren; jenes Moment des Tragischen, das der <lb n="pdi_308.021"/> grossen Comödie des Molière beigemischt war und ihr die Tiefe <lb n="pdi_308.022"/> gab, wird nach dem Geschmack der Masse durch eine flache <lb n="pdi_308.023"/> Sentimentalität ersetzt. In der deutschen bildenden Kunst ist <lb n="pdi_308.024"/> mit dem Widerstreit gegen die unproductiv gewordene Aesthetik <lb n="pdi_308.025"/> ─ denn unproductiv ist nur die Aesthetik, welche am Ideal <lb n="pdi_308.026"/> eines Zeitalters nicht mehr mitarbeitet ─ eine Misologie entstanden, <lb n="pdi_308.027"/> Hass der Künstler gegen das Denken über die Kunst, <lb n="pdi_308.028"/> ja theilweise gegen jede Art von höherer geistiger Bildung, und <lb n="pdi_308.029"/> die Folgen dieses Hasses liegen heute den Künstlern selber so <lb n="pdi_308.030"/> gut als dem Publicum vor Augen.</p> <lb n="pdi_308.031"/> <p> Sollen die mächtigen Triebe nicht verkümmern, welche nach <lb n="pdi_308.032"/> Wahrhaftigkeit, Erfassung von Kraft hinter aller Form und <lb n="pdi_308.033"/> daraus stammender Energie der Wirkung in unsrer Kunst hindrängen, <lb n="pdi_308.034"/> dann muss das natürliche Verhältniss zwischen der <lb n="pdi_308.035"/> Kunst, dem ästhetischen Raisonnement und einem debattirenden <lb n="pdi_308.036"/> Publicum wieder hergestellt werden. Die ästhetische Erörterung </p> </div> </body> </text> </TEI> [308/0010]
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Der Künstler und der Dichter fühlen heute, dass eine wahre pdi_308.002
und grosse Kunst der Gegenwart einen Inhalt und ein Geheimniss pdi_308.003
dieser Zeit auszusprechen hätte, so gewaltig als das, welches pdi_308.004
aus den Madonnen oder den Teppichfiguren Raphaels auf uns blickt, pdi_308.005
aus den Iphigenien zu uns redet, und er empfindet leidenschaftlich, pdi_308.006
um so leidenschaftlicher, je dunkler ihm das Ziel seiner pdi_308.007
Kunst vorschwebt, seinen Widerspruch gegen jene Aesthetik mit pdi_308.008
rückwärts gewandtem Antlitz, die aus den Werken jener Vergangenheit pdi_308.009
oder aus abstracten Gedanken einen Begriff der pdi_308.010
idealschönen Formen ableitet und an diesem die productive pdi_308.011
Arbeit des ringenden Künstlers misst. Unter denselben Einflüssen pdi_308.012
ist die Poesie ganz umgestaltet, aber auch herabgezogen pdi_308.013
worden. Grosse Genies der erzählenden Dichtung wie Dickens pdi_308.014
und Balzac haben sich dem Bedürfniss eines lesehungrigen pdi_308.015
Publicums nur allzusehr angepasst. Die Tragödie krankt am pdi_308.016
Mangel eines Publicums, in welchem die ästhetische Reflexion pdi_308.017
das Bewusstsein von der höchsten Aufgabe der Poesie wach erhalten pdi_308.018
hätte. Die Sittencomödie hat unter denselben Umständen pdi_308.019
die Feinheit in der Führung der Handlung und den Adel des pdi_308.020
Abschlusses verloren; jenes Moment des Tragischen, das der pdi_308.021
grossen Comödie des Molière beigemischt war und ihr die Tiefe pdi_308.022
gab, wird nach dem Geschmack der Masse durch eine flache pdi_308.023
Sentimentalität ersetzt. In der deutschen bildenden Kunst ist pdi_308.024
mit dem Widerstreit gegen die unproductiv gewordene Aesthetik pdi_308.025
─ denn unproductiv ist nur die Aesthetik, welche am Ideal pdi_308.026
eines Zeitalters nicht mehr mitarbeitet ─ eine Misologie entstanden, pdi_308.027
Hass der Künstler gegen das Denken über die Kunst, pdi_308.028
ja theilweise gegen jede Art von höherer geistiger Bildung, und pdi_308.029
die Folgen dieses Hasses liegen heute den Künstlern selber so pdi_308.030
gut als dem Publicum vor Augen.
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Sollen die mächtigen Triebe nicht verkümmern, welche nach pdi_308.032
Wahrhaftigkeit, Erfassung von Kraft hinter aller Form und pdi_308.033
daraus stammender Energie der Wirkung in unsrer Kunst hindrängen, pdi_308.034
dann muss das natürliche Verhältniss zwischen der pdi_308.035
Kunst, dem ästhetischen Raisonnement und einem debattirenden pdi_308.036
Publicum wieder hergestellt werden. Die ästhetische Erörterung
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