der äußeren Organisation nicht geschieden und es vereinigt wesent- liche Eigenschaften beider Classen von gesellschaftlichen Thatsachen in sich. -- Ein Bedenken ganz anderer Art scheint sich zu erheben, wenn man die Sittlichkeit als ein solches System auffaßt, das auch eine Funktion in dem gesellschaftlichen Leben hat, die Sittenlehre als eine Wissenschaft eines solchen Systems der Kultur. Nicht als eine solche Objektivität, sondern als ein Im- perativ des persönlichen Lebens ist sie gerade von einigen sehr tiefen Forschern aufgefaßt worden. Selbst ein Philosoph von der Richtung Herbert Spencer's hat in dem Plan seines Riesenwerkes die Ethik, "die Theorie über das rechtschaffene Leben" als den Schlußtheil desselben von der Sociologie getrennt. So ist unum- gänglich, diese Instanz gegen die vorliegende Vorstellung in's Auge zu fassen.
In der That existirt ein System der Sittlichkeit, mannig- fach abgestuft, in langer geschichtlicher Entwicklung erwachsen, örtlich vielfach selbständig geartet, in einer Vielfachheit von Formen aus- geprägt: eine nicht minder mächtige und wahrhafte Realität als Religion oder Recht. Sitte, als die Regel, das Wiederkehrende, die Form des Stetigen und Allgemeinen in Handlungen, bildet nur die neutrale Grundlage, die sowohl den Erwerb aufgefundener Zweckmäßigkeit des Handelns, das unter möglichst geringem Widerstand sein Ziel erreichen will, in sich faßt, als den an- gesammelten Reichthum von Maximen der Sittlichkeit, selbst eine Seite des Gewohnheitsrechts, nach welcher es den Inbegriff ge- meinsamer Rechtsüberzeugungen umfaßt, sofern sie durch Uebung sich als beherrschende Macht über die Einzelnen manifestiren. Wie denn Ulpian die mores definirt als tacitus consensus po- puli, longa consuetudine inveteratus1). Die Sitte grenzt sich nach Völkern und Staaten deutlich ab. Dagegen bildet die Sitt- lichkeit ein einziges Idealsystem, das durch den Unterschied von Gliederungen, Gemeinschaften, Verbänden nur modificirt wird. Die Erforschung dieses Idealsystems vollzieht sich in der
1)Ulpiani fragm. princ. § 4 [Huschke].
Erſtes einleitendes Buch.
der äußeren Organiſation nicht geſchieden und es vereinigt weſent- liche Eigenſchaften beider Claſſen von geſellſchaftlichen Thatſachen in ſich. — Ein Bedenken ganz anderer Art ſcheint ſich zu erheben, wenn man die Sittlichkeit als ein ſolches Syſtem auffaßt, das auch eine Funktion in dem geſellſchaftlichen Leben hat, die Sittenlehre als eine Wiſſenſchaft eines ſolchen Syſtems der Kultur. Nicht als eine ſolche Objektivität, ſondern als ein Im- perativ des perſönlichen Lebens iſt ſie gerade von einigen ſehr tiefen Forſchern aufgefaßt worden. Selbſt ein Philoſoph von der Richtung Herbert Spencer’s hat in dem Plan ſeines Rieſenwerkes die Ethik, „die Theorie über das rechtſchaffene Leben“ als den Schlußtheil deſſelben von der Sociologie getrennt. So iſt unum- gänglich, dieſe Inſtanz gegen die vorliegende Vorſtellung in’s Auge zu faſſen.
In der That exiſtirt ein Syſtem der Sittlichkeit, mannig- fach abgeſtuft, in langer geſchichtlicher Entwicklung erwachſen, örtlich vielfach ſelbſtändig geartet, in einer Vielfachheit von Formen aus- geprägt: eine nicht minder mächtige und wahrhafte Realität als Religion oder Recht. Sitte, als die Regel, das Wiederkehrende, die Form des Stetigen und Allgemeinen in Handlungen, bildet nur die neutrale Grundlage, die ſowohl den Erwerb aufgefundener Zweckmäßigkeit des Handelns, das unter möglichſt geringem Widerſtand ſein Ziel erreichen will, in ſich faßt, als den an- geſammelten Reichthum von Maximen der Sittlichkeit, ſelbſt eine Seite des Gewohnheitsrechts, nach welcher es den Inbegriff ge- meinſamer Rechtsüberzeugungen umfaßt, ſofern ſie durch Uebung ſich als beherrſchende Macht über die Einzelnen manifeſtiren. Wie denn Ulpian die mores definirt als tacitus consensus po- puli, longa consuetudine inveteratus1). Die Sitte grenzt ſich nach Völkern und Staaten deutlich ab. Dagegen bildet die Sitt- lichkeit ein einziges Idealſyſtem, das durch den Unterſchied von Gliederungen, Gemeinſchaften, Verbänden nur modificirt wird. Die Erforſchung dieſes Idealſyſtems vollzieht ſich in der
1)Ulpiani fragm. princ. § 4 [Huschke].
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Erſtes einleitendes Buch.
der äußeren Organiſation nicht geſchieden und es vereinigt weſent-
liche Eigenſchaften beider Claſſen von geſellſchaftlichen Thatſachen
in ſich. — Ein Bedenken ganz anderer Art ſcheint ſich zu erheben,
wenn man die Sittlichkeit als ein ſolches Syſtem auffaßt, das
auch eine Funktion in dem geſellſchaftlichen Leben hat, die
Sittenlehre als eine Wiſſenſchaft eines ſolchen Syſtems der
Kultur. Nicht als eine ſolche Objektivität, ſondern als ein Im-
perativ des perſönlichen Lebens iſt ſie gerade von einigen ſehr
tiefen Forſchern aufgefaßt worden. Selbſt ein Philoſoph von der
Richtung Herbert Spencer’s hat in dem Plan ſeines Rieſenwerkes
die Ethik, „die Theorie über das rechtſchaffene Leben“ als den
Schlußtheil deſſelben von der Sociologie getrennt. So iſt unum-
gänglich, dieſe Inſtanz gegen die vorliegende Vorſtellung in’s
Auge zu faſſen.
In der That exiſtirt ein Syſtem der Sittlichkeit, mannig-
fach abgeſtuft, in langer geſchichtlicher Entwicklung erwachſen, örtlich
vielfach ſelbſtändig geartet, in einer Vielfachheit von Formen aus-
geprägt: eine nicht minder mächtige und wahrhafte Realität als
Religion oder Recht. Sitte, als die Regel, das Wiederkehrende,
die Form des Stetigen und Allgemeinen in Handlungen, bildet
nur die neutrale Grundlage, die ſowohl den Erwerb aufgefundener
Zweckmäßigkeit des Handelns, das unter möglichſt geringem
Widerſtand ſein Ziel erreichen will, in ſich faßt, als den an-
geſammelten Reichthum von Maximen der Sittlichkeit, ſelbſt eine
Seite des Gewohnheitsrechts, nach welcher es den Inbegriff ge-
meinſamer Rechtsüberzeugungen umfaßt, ſofern ſie durch Uebung
ſich als beherrſchende Macht über die Einzelnen manifeſtiren.
Wie denn Ulpian die mores definirt als tacitus consensus po-
puli, longa consuetudine inveteratus 1). Die Sitte grenzt ſich
nach Völkern und Staaten deutlich ab. Dagegen bildet die Sitt-
lichkeit ein einziges Idealſyſtem, das durch den Unterſchied
von Gliederungen, Gemeinſchaften, Verbänden nur modificirt
wird. Die Erforſchung dieſes Idealſyſtems vollzieht ſich in der
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/99>, abgerufen am 16.07.2024.
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