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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
Wissenschaften von der äußeren Organisation der Gesellschaft. Die
Thatsachen zweiter Ordnung, welche hier die Grundlage bilden,
werden an einem späteren Punkt erörtert werden, da sie erst nach
einer näheren Analysis der Systeme der Kultur mit hinreichender
Deutlichkeit gesehen werden können. Aber wie wir sie auch be-
stimmen werden, sie müssen dasselbe Problem einschließen, dessen
Vorhandensein Beweis für die Nothwendigkeit einer Wissenschaft
ist, welche unter den allgemeinen Bedingungen menschlichen Er-
kennens die Gestaltung des auf die geschichtliche und gesellschaft-
liche Wirklichkeit gerichteten Erkenntnißprocesses untersucht, seine
Grenzen, seine Mittel, den Zusammenhang der Wahrheiten dar-
legt, in welchem voran zu schreiten der Wille der Erkenntniß in
der Menschheit auf diesem Gebiet gebunden ist. Die Lücke im
Zusammenhang des wissenschaftlichen Denkens hat sich den Staats-
wissenschaften so fühlbar gemacht, als denen der Religion oder
politischen Oekonomie.

Faßt man alsdann das Verhältniß dieser beiden Classen von
Wissenschaften zu einander in's Auge, so entsteht hier für den
Logiker eine Forderung an methodisches Bewußtsein über den
Zusammenhang des Erkenntnißvorgangs, in dem diese Einzel-
wissenschaften entstanden sind, welche noch weiter führt. Die
Wissenschaften einer jeden dieser beiden Classen können gemäß
der Natur des Vorgangs von Zerlegung, in welchem sie sich
schieden, nur in der beständigen Relation ihrer Wahrheiten auf
die in der anderen Classe gefundenen entwickelt werden. Und
innerhalb einer jeden dieser Classen besteht dasselbe Verhältniß,
oder wie könnten die Wahrheiten der Wissenschaft der Aesthetik
ohne die Beziehung zu denen der Moral wie zu denen der Re-
ligion entwickelt werden, da doch der Ursprung der Kunst, die
Thatsache des Ideals, in diesen lebendigen Zusammenhang zurück-
weist? Wir erkennen auch hier, indem wir analysiren und
den Theilinhalt abstrakt entwickeln; aber Bewußtsein über
diesen Zusammenhang und Verwerthung desselben: das ist
die große methodologische Anforderung, welche aus diesem That-
bestand entspringt; nie darf die Beziehung des so gewissermaßen

Erſtes einleitendes Buch.
Wiſſenſchaften von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Die
Thatſachen zweiter Ordnung, welche hier die Grundlage bilden,
werden an einem ſpäteren Punkt erörtert werden, da ſie erſt nach
einer näheren Analyſis der Syſteme der Kultur mit hinreichender
Deutlichkeit geſehen werden können. Aber wie wir ſie auch be-
ſtimmen werden, ſie müſſen daſſelbe Problem einſchließen, deſſen
Vorhandenſein Beweis für die Nothwendigkeit einer Wiſſenſchaft
iſt, welche unter den allgemeinen Bedingungen menſchlichen Er-
kennens die Geſtaltung des auf die geſchichtliche und geſellſchaft-
liche Wirklichkeit gerichteten Erkenntnißproceſſes unterſucht, ſeine
Grenzen, ſeine Mittel, den Zuſammenhang der Wahrheiten dar-
legt, in welchem voran zu ſchreiten der Wille der Erkenntniß in
der Menſchheit auf dieſem Gebiet gebunden iſt. Die Lücke im
Zuſammenhang des wiſſenſchaftlichen Denkens hat ſich den Staats-
wiſſenſchaften ſo fühlbar gemacht, als denen der Religion oder
politiſchen Oekonomie.

Faßt man alsdann das Verhältniß dieſer beiden Claſſen von
Wiſſenſchaften zu einander in’s Auge, ſo entſteht hier für den
Logiker eine Forderung an methodiſches Bewußtſein über den
Zuſammenhang des Erkenntnißvorgangs, in dem dieſe Einzel-
wiſſenſchaften entſtanden ſind, welche noch weiter führt. Die
Wiſſenſchaften einer jeden dieſer beiden Claſſen können gemäß
der Natur des Vorgangs von Zerlegung, in welchem ſie ſich
ſchieden, nur in der beſtändigen Relation ihrer Wahrheiten auf
die in der anderen Claſſe gefundenen entwickelt werden. Und
innerhalb einer jeden dieſer Claſſen beſteht daſſelbe Verhältniß,
oder wie könnten die Wahrheiten der Wiſſenſchaft der Aeſthetik
ohne die Beziehung zu denen der Moral wie zu denen der Re-
ligion entwickelt werden, da doch der Urſprung der Kunſt, die
Thatſache des Ideals, in dieſen lebendigen Zuſammenhang zurück-
weiſt? Wir erkennen auch hier, indem wir analyſiren und
den Theilinhalt abſtrakt entwickeln; aber Bewußtſein über
dieſen Zuſammenhang und Verwerthung deſſelben: das iſt
die große methodologiſche Anforderung, welche aus dieſem That-
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[60/0083] Erſtes einleitendes Buch. Wiſſenſchaften von der äußeren Organiſation der Geſellſchaft. Die Thatſachen zweiter Ordnung, welche hier die Grundlage bilden, werden an einem ſpäteren Punkt erörtert werden, da ſie erſt nach einer näheren Analyſis der Syſteme der Kultur mit hinreichender Deutlichkeit geſehen werden können. Aber wie wir ſie auch be- ſtimmen werden, ſie müſſen daſſelbe Problem einſchließen, deſſen Vorhandenſein Beweis für die Nothwendigkeit einer Wiſſenſchaft iſt, welche unter den allgemeinen Bedingungen menſchlichen Er- kennens die Geſtaltung des auf die geſchichtliche und geſellſchaft- liche Wirklichkeit gerichteten Erkenntnißproceſſes unterſucht, ſeine Grenzen, ſeine Mittel, den Zuſammenhang der Wahrheiten dar- legt, in welchem voran zu ſchreiten der Wille der Erkenntniß in der Menſchheit auf dieſem Gebiet gebunden iſt. Die Lücke im Zuſammenhang des wiſſenſchaftlichen Denkens hat ſich den Staats- wiſſenſchaften ſo fühlbar gemacht, als denen der Religion oder politiſchen Oekonomie. Faßt man alsdann das Verhältniß dieſer beiden Claſſen von Wiſſenſchaften zu einander in’s Auge, ſo entſteht hier für den Logiker eine Forderung an methodiſches Bewußtſein über den Zuſammenhang des Erkenntnißvorgangs, in dem dieſe Einzel- wiſſenſchaften entſtanden ſind, welche noch weiter führt. Die Wiſſenſchaften einer jeden dieſer beiden Claſſen können gemäß der Natur des Vorgangs von Zerlegung, in welchem ſie ſich ſchieden, nur in der beſtändigen Relation ihrer Wahrheiten auf die in der anderen Claſſe gefundenen entwickelt werden. Und innerhalb einer jeden dieſer Claſſen beſteht daſſelbe Verhältniß, oder wie könnten die Wahrheiten der Wiſſenſchaft der Aeſthetik ohne die Beziehung zu denen der Moral wie zu denen der Re- ligion entwickelt werden, da doch der Urſprung der Kunſt, die Thatſache des Ideals, in dieſen lebendigen Zuſammenhang zurück- weiſt? Wir erkennen auch hier, indem wir analyſiren und den Theilinhalt abſtrakt entwickeln; aber Bewußtſein über dieſen Zuſammenhang und Verwerthung deſſelben: das iſt die große methodologiſche Anforderung, welche aus dieſem That- beſtand entſpringt; nie darf die Beziehung des ſo gewiſſermaßen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/83>, abgerufen am 24.11.2024.